Corona dürfte für viele Unternehmen ein Anlass sein, die Aufteilung ihrer Produktionsstandorte neu zu bewerten. Das gilt besonders für die Betriebe, bei denen die Abhängigkeit von zugelieferten Teilen aus nur einem Land – beispielsweise China – hoch ist.

Angesichts der Coronapandemie überlegen Mittelständler, Teile ihrer Produktion aus Ländern wie China wieder nach Europa zu holen. Kommt jetzt die große Rückkehr? Und welche Faktoren sollten Unternehmer bei ihrer Entscheidung über das sogenannte Reshoring im Blick haben? Eric Heymann, Senior Economist bei Deutsche Bank Research, über die Abhängigkeit von Zulieferern, staatliche Regulierung und die Effekte gestiegener Lohnkosten in Fernost.


Herr Heymann, die Coronakrise hat die globalen Handelsströme unterbrochen, Produktionsstätten lagen still. Hat die Pandemie das Potential, einen größeren Reshoring-Effekt auszulösen – also die Rückkehr der Produktion deutscher Firmen aus dem Ausland, etwa aus China?

Heymann: Das lässt sich noch nicht endgültig sagen, die Krise liegt ja noch nicht hinter uns. Sicher ist aber: Corona dürfte für viele Unternehmen ein Anlass sein, die Aufteilung ihrer Produktionsstandorte neu zu bewerten. Das gilt besonders für die Betriebe, bei denen die Abhängigkeit von zugelieferten Teilen aus nur einem Land – beispielsweise China – hoch ist. Einige könnten sich dann durchaus entschließen, in der Produktion wieder stärker auf Europa zu setzen.


Der Trend zum Reshoring wird bereits seit einigen Jahren ausgerufen – oft werden bekannte Unternehmen wie Stihl oder der Stofftierhersteller Steiff als Beispiele genannt.

Heymann: Das dürfte vor allem auf anekdotischen Evidenzen beruhen, denn in den Statistiken sehen wir keine starke Entwicklung in diese Richtung: Die deutschen Importe etwa sind in den vergangenen zehn Jahren recht stetig gestiegen. Das spricht dafür, dass eine Rückkehr von Produktionen bisher noch nicht in großem Umfang stattgefunden hat.

Ein Grund für die bislang eher geringe Bedeutung von Reshoring ist, dass wir in Europa gar nicht genügend Arbeitskräfte hätten, um eine Rückverlagerung größerer Dimension zu stemmen. Aber natürlich kann es für einzelne Betriebe immer gute Gründe geben, ihre Produktionen zurückzuholen.

Übrigens bedeutet Reshoring selten, dass ein Betrieb im Ausland komplett ab- und in Europa wieder aufgebaut wird. In den allermeisten Fällen wird es so sein, dass sich die Schwerpunkte verlagern und beispielsweise die Produktion in Europa stärker ausgebaut wird, während sie in China nicht mehr so schnell wächst.


Was hat sich durch Corona verändert, dass mittelständische Unternehmen jetzt verstärkt über Reshoring nachdenken?

Heymann: Die Krise löste gerade zu Beginn einen starken Angebotsschock aus: Lieferketten wurden unterbrochen, dringend notwendige Teile fehlten. Für die meisten Firmen war es nicht möglich, die Produktion an anderen Standorten schnell genug hochzufahren. Diese Anfälligkeit für Störungen könnte jetzt den Anstoß zur Neubewertung geben – mit dem Ziel, die Lieferketten sicherer zu machen und die eigene Produktion zu schützen.


Ein Grund für die ursprüngliche Verlagerung der Produktion ins Ausland waren die niedrigeren Lohnkosten dort. Wie haben sie sich entwickelt, etwa in China?

Heymann: Lohnkosten sind nach wie vor für einige Sektoren ein wichtiger Treiber. Vorreiter war ja vor allem die Textil- und Bekleidungsindustrie. Gerade hier wird aber auch die Entwicklung der vergangenen Jahre deutlich: China ist zwar noch immer der größte Textilproduzent weltweit – doch zumindest in den Küstenregionen sind die Lohnkosten mittlerweile so hoch, dass Bekleidungsfirmen in Länder wie Bangladesch ausweichen. Hohe Lohnkosten können grundsätzlich durch eine hohe Produktivität, flexible Arbeitszeitmodelle oder eine Konzentration auf hochwertige Produkte ausgeglichen werden. Wichtig ist dabei, wie sich Löhne über die Zeit entwickeln: 2013 lagen die Arbeitskosten in der Industrie in China bei 4,44 EUR pro Stunde, 2018 bei 7 EUR – das ist ein Anstieg um knapp 60% binnen fünf Jahren. Im gleichen Zeitraum ist dieser Wert für Deutschland von 37 EUR auf 41 EUR gestiegen – also nur um 11%. Auch künftig werden die Löhne in China stärker steigen als die in Deutschland. Das heißt: Zumindest was die Lohnkosten betrifft, verringern sich im Laufe der Zeit für viele Unternehmen aus Deutschland die relativen Vorteile Chinas.


Auch weil zunehmend Roboter eingesetzt werden, um die Arbeitskosten zu verringern?

Heymann: In der Tat wachsen Automatisierung und Robotik stark. Laut einer Studie der International Federation of Robotics (IFR) ist die Zahl der weltweit jährlich installierten Industrieroboter von 2013 bis 2018 um fast 140% gewachsen. Die Coronakrise wird diese Dynamik nur kurzzeitig bremsen. Bezogen auf die Roboterdichte in der produzierenden Industrie, lag Deutschland 2018 auf dem dritten Platz – hinter Singapur und Südkorea, aber deutlich etwa vor den USA oder Kanada. China übrigens holt hier seit Jahren schnell auf und liegt inzwischen über dem weltweiten Durchschnitt.

Für Reshoring spielt das eine wichtige Rolle – denn mit mehr Automatisierung verlieren Lohnkosten an Bedeutung, und die Anreize zur Rückverlagerung steigen. Das konnten wir bereits in der Finanzkrise 2008 beobachten: Da die Zinsen im Vergleich zu den Löhnen stärker sanken, wurde es für Firmen lukrativer, den Einsatz von Robotern zu erhöhen und ihre Produktion teilweise wieder ins eigene Land zu holen.


Welche Auswirkungen wird die Nachhaltigkeitsdebatte haben, etwa mit Blick auf höhere Transportpreise?

Heymann: Die Logistik wird sich durch klimapolitische Regulierung verteuern. Das gilt vor allem für Europa. Relevant ist der Wert der transportierten Güter im Verhältnis zu den Transportkosten. Wenn etwa ein Schiff mit 20.000 Containern voller Notebooks aus China kommt, sind die Transportkosten pro einzelnes Teil zu vernachlässigen – anders als etwa bei Mineralwasser, das aus Frankreich importiert wird.


Welche Branchen könnten am ehesten von Reshoring profitieren – und in welchen Industrien ist eine Rückkehr mittelfristig eher unwahrscheinlich?

Heymann: Reshoring dürfte vor allem in Branchen in Betracht gezogen werden, in denen man die Lieferkette stärker differenzieren möchte, weil aktuell eine hohe Abhängigkeit von nur einem Lieferland besteht. Zum Beispiel die Elektroindustrie: Aus China kommen viele elektronische Bauelemente und andere Vorprodukte, die dann im Maschinenbau oder in der Autobranche verwendet werden. Fehlen diese Vorprodukte, steht die Produktion still. Hier liegen Risiken für die Wertschöpfungskette – und durch die Coronakrise sind sie deutlich zutage getreten. Man könnte also sagen: Je kompletter ein Produkt bereits aus China – oder einem anderen Land – nach Deutschland kommt, umso geringer ist der Anreiz zum Reshoring. Ich sehe beispielsweise nicht, dass wir in Deutschland wieder in großem Stil Fernseher fertigen oder gar T-Shirts nähen.


Wie wird sich die während der Coronapandemie entstandene Diskussion über medizintechnische Produkte auswirken?

Heymann: Diese Branche nimmt eine Sonderrolle ein, da hier nicht ausschließlich marktwirtschaftliche Faktoren ausschlaggebend sind, sondern auch staatliches Interesse. Wir stehen noch am Anfang der Debatte, aber sicher ist: Die Politik möchte einen höheren heimischen Fertigungsanteil bei Medizintechnik, Schutzausrüstung oder Medikamenten. Wenn das wirtschaftlich nicht darstellbar ist, könnte sie die Produktion im Inland fördern.


Werden Unternehmen, die China den Rücken kehren, in Deutschland produzieren – oder in anderen europäischen Ländern?

Heymann: Tatsächlich dürfte für die wenigsten Betriebe Deutschland im Fokus stehen, sondern beispielsweise Länder in Osteuropa. Rumänien etwa lag bereits 2018 mit 5,80 EUR pro Stunde bei den Arbeitskosten in der Industrie unter den Löhnen in China. Die Unternehmen betrachten Europa als einen Markt mit unterschiedlichen Standortfaktoren in den jeweiligen Ländern. Jedes Land in der EU bietet jedoch Vorteile gegenüber China: keine Zölle, wenig Probleme mit Produktpiraterie oder der Sicherheit von geistigem Eigentum, relativ geringe staatliche Regulierung, Nähe zum europäischen Absatzmarkt. Letztlich kommt es aber immer auf den Einzelfall an.


Welche Gründe könnten gegen eine Rückverlagerung der Produktion sprechen?

Heymann: Das könnten etwa hohe Zölle in den ausländischen Absatzmärkten sein, fehlende Arbeitskräfte in der Heimat, geringe Transportkosten oder begrenzte Möglichkeiten zur Automatisierung. Aber auch, wie im Fall Chinas, sogenannte Local-Content-Anforderungen – also die Vorgabe, Produkte im Land herzustellen, wenn man sie dort verkaufen will. In der Automobilindustrie ist das ein wichtiger Faktor. Hinzu kommt: Ebenso wie Unternehmen verfügen auch Länder in gewisser Weise über Geschäftsmodelle, die sich über Jahrzehnte entwickelt haben. Deutschland zum Beispiel ist sehr gut in der Entwicklung und Produktion hochwertiger Investitionsgüter wie Autos oder Maschinen. Hier sind eine höchst effiziente Wertschöpfungskette sowie eine Struktur aus Forschungsinstituten und Ingenieurbüros gewachsen, die andere Länder nicht einfach mal eben kopieren können – ein immenser Standortvorteil. Das gilt in anderen Branchen umgekehrt auch für China. Kurz: Reshoring ist kein Prozess, bei dem wir innerhalb eines halben Jahres eine riesige Welle sehen.


Die Entscheidung über ein mögliches Reshoring muss jede Firma individuell abwägen. Welche Fragen sollten sich Unternehmer dabei stellen?

Heymann: Es geht um die klassischen Standortfaktoren: Wie hoch sind Lohnkosten, Steuern und Zölle? Wie teuer ist Bauland? Sind genügend Arbeitskräfte verfügbar, und sind sie gut qualifiziert? Können Größenvorteile in der Produktion erzielt werden? Wie sieht es mit Korruption, Regulierung und Rechtssicherheit aus? Welche politischen Risiken gibt es? Wie wichtig ist der Standort, um den jeweiligen Markt zu erschließen? All diese Aspekte  müssen je nach Branche und Unternehmen unterschiedlich bewertet werden. Das Gesamtpaket muss dann passen.


Auf einen Blick: Wichtige Standortfaktoren für die Produktion

  1. Niveau und Dynamik der Lohnkosten
  2. Verfügbarkeit und Qualifikation von Arbeitskräften
  3. Höhe von Steuern, Abgaben und Subventionen
  4. Absatzpotential im jeweiligen Markt
  5. Mögliche Größenvorteile in der Produktion
  6. Qualität der lokalen Infrastruktur
  7. Existenz von Zöllen/nichttarifären Handelshemmnissen
  8. Staatliche Einflussnahme und Regulierung
  9. Politische Risiken
  10. Grad der Rechtssicherheit
  11. Ausmaß der Korruption
  12. Preise und Verfügbarkeit von Bauland

 


Autor

Eric Heymann, Senior Economist Automobil, Industrien, Klimapolitik, Verkehr, Deutsche Bank AG, Deutsche Bank ResearchEric Heymann,
Senior Economist Automobil, Industrien, Klimapolitik, Verkehr,
Deutsche Bank AG
Deutsche Bank Research

 

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