Von seinen Erfahrungen in Russland berichtet Johann Vranic, Vertriebsleiter Export Osteuropa des Lüftungsspezialisten Rosenberg Ventilatoren GmbH. Die genannten Personen und Ereignisse sind typisch für die derzeitige Situation in Russland, aber – aus Gründen der notwendigen Diskretion – nicht unbedingt real. (gus)

Von Johann Vranic, Vertriebsleiter Export Osteuropa, Rosenberg Ventilatoren GmbH

Wer im vergangenen Jahr Vertriebsverantwortung im Russland-Geschäft hatte, erlebte bei seinen Kunden eine tiefgreifende Ernüchterung nach dem starken Wachstum der Vorjahre. Dabei waren es hauptsächlich die Großhändler, die vom Vertrieb bei Laune gehalten, aber auch kontrolliert werden mussten.

Die Zusammenarbeit mit den Großhändlern basiert auf einer vollständig unabhängigen Grundlage, d.h., sie kaufen die Güter in Deutschland, organisieren die Logistik und verkaufen die Ware in Russland auf eigene Rechnung. Dies verlangt von beiden Seiten großes Engagement und Geschäftstüchtigkeit.

Die Erfolge und das Wohlergehen der deutschen Exporteure hängen stark von den richtigen Aktivitäten der Großhändler ab, die vom Vertriebsmanager koordiniert werden. In den letzten Jahren wurden die Großhändler immer eigenständiger und selbstsicherer. Man konnte in Russland fast in allen Branchen erstarktes Selbstbewusstsein und den Drang nach Expansion spüren, als wenn die Geschäftsleute plötzlich aus dem Dornröschenschlaf aufgewacht wären.

Da die Gewinnung zusätzlicher Marktanteile in der eigenen Branche sehr schwierig ist, nahmen viele Händler neue Fabrikate ins Portfolio. Die Loyalität hing oft von dem zu erwartenden Gewinn ab, und die Verträge wurden immer noch nicht richtig ernst genommen. In der Regel standen die neuen Marken zu den bereits vorhandenen Produkten nicht direkt in Konkurrenz, aber banden personelle Ressourcen, worunter naturgemäß das Kerngeschäft litt.

Unser größter Großhändler ist die Firma Nazdrov, die inzwischen 50 Mio Euro Jahresumsatz macht. Herr Purazov, Eigentümer der Firma, vertritt inzwischen zwölf ausländische Firmen, vom Autohaus bis zu den diversen Baustoffen. Die Firma funktioniert wie eine Holding, in der die zwölf Unternehmen mit über 800 Mitarbeitern selbständig handeln und manchmal sogar zueinander in Konkurrenz stehen.

Diese Entwicklung bei der Firma Nazdrov beobachteten wir von Anfang an mit Unbehagen, verpassten aber den richtigen Augenblick, um Herrn Purazov die Grenzen zu zeigen und ihm noch rechtzeitig die anderen Vertretungen zu untersagen.

Vor zehn Jahren war Herr Purazov noch unbekannt und wurde von uns als Händler aufgebaut. Hätten wir nicht die Risikobereitschaft auf uns genommen, ihm einen vollen Lkw mit Maschinen auf 90 Tage Zahlungsziel zu liefern, wäre Herr Purazov wahrscheinlich kaum so weit gekommen.

Wir räumten ihm nicht nur einen Kredit ein, sondern holten auch seine Techniker zu ­kostenlosen Schulungen nach Stuttgart und betreuten anfangs jedes Geschäft vom Auftragseingang bis zu seiner Realisierung, sowohl technisch als auch kaufmännisch und logistisch.

Seit ein paar Jahren ignoriert Herr Purazov die guten Ratschläge und die enge Betreuung. Sein Handeln richtet er nach wirtschaftlichen Aspekten und vor allem danach, was der eigenen Firma bzw. dem eigenen Profit guttut. Das war der wesentliche Grund, warum er verschiedene Fabrikate in sein Portfolio aufnahm.

Er verstand schnell die Gesetze der freien Marktwirtschaft und wollte sie in jeder Hinsicht nutzen. Er erkannte früher als die anderen, dass die komparativen Vorteile in Russland langfristig nicht über den Preis, sondern nur durch die Veredelung der eingeführten Produkte erreicht werden können.

Inzwischen verkauft er die Maschinen für Kälteanlagen nicht einzeln wie Brötchen, sondern bietet Systemlösungen an. Ein Pool von 50 Ingenieuren ist nur mit dem Projektieren der Anlagen beschäftigt, die genau den Kundenbedürfnissen entsprechen, seine Konkurrenz hat nichts Vergleichbares zu bieten.

Das Ziel von Herr Purazov ist es, jede Anfrage am gleichen Tag qualifiziert zu beantworten – vergleichbare Firmen der gleichen Branche in Deutschland sind stolz, wenn sie ähnliche Anfragen innerhalb einer Woche bearbeiten können. Herr Purazov will besser sein als seine einstigen Lehrer und spielt mit dem Gedanken, in den nächsten Jahren nach Mittelosteuropa zu exportieren.

Die Firma Nazdrov feierte letzten Sommer das zehnjährige Jubiläum, aber offiziell ist sie erst seit sechs Jahren registriert. Herr Purazov spricht nicht gerne über die Entstehungsgeschichte und die Betriebsergebnisse. Er betont nur, dass sein Unternehmen zu viel Steuern zahlen müsse und dass die Gewinnmarge konstant falle, bei manchen Projekten läge sie sogar unter 20%, was vor ein paar Jahren in Russland noch undenkbar gewesen wäre.

Die hohen Gewinne verdanken die russischen Unternehmen auch einer laxen Rechtspraxis und gefügigen Arbeitskräften. So haben die meisten der Mitarbeiter der Firma Nazdrov weder einen Arbeitsvertrag, noch werden Abgaben zur Sozialversicherung gezahlt. Die Finanzpolizei greift in den letzten Jahren aber immer härter durch, deshalb legen immer mehr russische Firmen die Fakten offen auf den Tisch. Vor allem solche Firmen wie Nazdrov, die durch eigene Arbeit wohlhabend wurden und ihr neues Eigentum sichern möchten, bemühen sich um Seriosität.

Die Firma Nazdrov ist ohne Frage ein Ver­treter des neuen Mittelstandes in Russland. Es gibt Zehntausende anderer russischer Firmen, die inzwischen zu diesem Klub gehören – und jeden Tag werden es mehr. Die meisten von ihnen haben nach der Perestroika Anfang der 90er Jahre klein angefangen und nach und nach ein produzierendes Unternehmen aufgebaut.

Ein weiteres Beispiel für den neuen Mittelstand ist Herr Ozlov in Jekaterinenburg. Vor 15 Jahren verließ er seine Arbeitsbrigade bei einer staatlichen Firma, wo er als Bauingenieur arbeitete, und fing an, mit einer einzigen Aushilfe bei Verwandten und Bekannten die Wohnungen zu renovieren.

Im Zuge der Privatisierung haben viele Bürger die staatliche Wohnung, in der sie zur Miete wohnten, für geringes Geld kaufen können und wollten das neuerworbene Eigentum renovieren. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Herr Ozlov schon bald mit Aufträgen überhäuft wurde. Er verdiente so gut, dass er schon nach einem Jahr 15 Personen beschäftigte und einen Lkw kaufen konnte. Heute besitzt er eine der größten Baufirmen in Russland mit über 4.000 Mitarbeitern.

Auch diese Firma ist wie eine Holding aufgebaut mit drei Hauptausrichtungen: Hausbau, Fensterproduktion und Heizungsbau. Herr Ozlov zieht es vor, über die Finanz­situation seiner Firma keine Angaben zu machen, und sagt bescheiden, man könnte von den Ergebnissen ganz gut leben, und den Cashflow würde sein Controller regeln, der seinen Abschluss auf der Harvard Universität gemacht habe. Er verweist stolz auf die an der Wand hängenden Diplome der Regionalregierung, auf denen zu lesen ist, dass die Firma Preise für Innovation, Fortschritt, Umwelttechnologie etc. gewann.

Zugleich ist es auch ein Beweis dafür, dass die Firmenaktivitäten gesetzeskonform sind. Herr Ozlov hat sein Geld ehrlich verdient, deshalb bezeichnet er sein Unternehmen als ein mittelständisches. Konzerne sind für ihn nur solche Firmen, die im Erdölgeschäft oder im Geschäft mit anderen Bodenschätzen tätig sind, von denen es in Russland nur eine Handvoll gibt.

Das Spektrum der mittelständischen Firmen ist sehr breit, und die meisten von ihnen beschäftigen nur ein paar Mitarbeiter. In der Sowjetunion war das autarke Denken sehr verbreitet, heute haben viele Russen erkannt, dass es auf die Spezialisierung ankommt, und versuchen sich deshalb, meistens mit Erfolg, in einer Nische zu etablieren.

Die Firma von Natalija, ExpoRus, mit acht Beschäftigten ist so ein Beispiel. Sie bauen in Moskau Messestände nach dem gleichen internationalen Standard wie im Westen und montieren nicht nur die einzelnen Teile zusammen, sondern entwerfen auch das Design und machen eigene Vorschläge für die Ausstattung. Außerdem spricht ein Mitarbeiter Deutsch und einer Englisch.

Die Firma gibt es erst seit zwei Jahren, aber es existieren bereits Pläne für eine Filiale in St. Petersburg. Natalija gibt freimütig zu, dass dies nicht ihre Idee war, sondern vielmehr ein Wunsch der Kunden, und in Russland sei es nicht anders als in Deutschland: Der Kunde ist König.

Kontakt: johann.vranic[at]rosenberg-gmbh.com

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