Beim jährlichen Branchentreffen des Mainzer Kreditversicherers mahnen die Protagonisten an, dass Deutschland und die EU im globalen Wettstreit nicht unter die Räder kommen dürfen, sondern wieder innovativer werden müssen. Doch weltweite Entwicklungen bedeuten viel Gegenwind. Umso wichtiger ist es, sich auf die eigenen Stärken zu besinnen und die Risiken gut zu managen.
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Im letzten Jahr stand auf dem Coface-Kongress die deutsche Wirtschaft im Fokus. Diesmal ging der Blick weit darüber hinaus. Dafür sorgten allein schon seither geschehene globale Ereignisse wie geopolitische Verschiebungen, der anhaltende Ukraine-Krieg, die US-Zollpolitik oder die Turbulenzen auf den Energiemärkten. „Nach einem Jahr wie diesem ist es wichtiger denn je, in den Ausbau der globalen Infrastruktur sowie in die besten Risikodaten und Technologien zu investieren“, sagte Katarzyna Kompowska, CEO Coface Nordeuropa, zu Beginn der 18. Auflage des Kongresses, der Mitte Mai im Alten Postlager neben dem Mainzer Hauptbahnhof stattfand.
Der Index für wirtschaftspolitische Unsicherheit in Deutschland, unterstrich Kompowska, liege derzeit auf dem absoluten Höhepunkt und damit sogar über dem Niveau der Pandemie, als „wir schon gedacht hatten, die Welt verändere sich komplett. Für den globalen Handel und die Exportnation Deutschland bleibt die wirtschaftliche Situation herausfordernd und volatil.“
Noch nie konnten wir unsere eigene Zukunft und Realität stärker beeinflussen als heute“
So war es an diesem Tag auch eine Art Drahtseilakt und eine Kunst gleichermaßen, die Risiken beim Namen zu nennen und gleichzeitig Zuversicht zu verbreiten, zumal die erwähnte deutsche Wirtschaft, immerhin die drittgrößte auf der Welt, seit nunmehr drei Jahren stagniert. Einer, dem dies augenscheinlich gelang, war Anders Indset, Wirtschaftsphilosoph und Unternehmer mit norwegischen Wurzeln. „Donald Trump ist das Beste, was uns passieren konnte“, sagte Indset zur Überraschung der wohl allermeisten unter den rund 1.700 Teilnehmenden vor Ort und an den Bildschirmen. „Er hat uns wachgerüttelt. Jetzt müssen wir arbeiten und forschen, jetzt müssen wir unsere Genialität aktivieren. Es sind komplexe Zeiten, aber noch nie konnten wir unsere eigene Zukunft und Realität stärker beeinflussen als heute“, so Indset, der früher erfolgreich Handball gespielt hat.
Bei neuen Errungenschaften in der Künstlichen Intelligenz, Robotik oder Biotechnologie müsse man sich an die Spitze setzen. „Beim Aufkommen der KI-Sprachmodelle haben wir gemerkt, dass große Überraschungen bei Innovationen möglich sind. Wir müssen die Flucht nach vorne antreten“, sagte Indset, der nach seinem Keynote-Vortrag noch an der folgenden Podiumsdiskussion teilnahm.

Anders Indset. © Yves Otterbach/Coface
In der Runde erklärte Erich Paul Lemke vom nicht weit entfernt ansässigen Pharmariesen Boehringer-Ingelheim, dass „wir aus EU-Sicht zusehen müssen, dass wir nicht unter die Räder kommen. Wir müssen auch in der Handelspolitik wettbewerbsfähiger werden. Die Handelsabkommen der EU sind sehr komplex.“ Mercosur etwa könnte schon längst in Kraft sein, so der Zollexperte. Hier stünde man sich jedoch immer wieder selbst im Weg. „Auch das CETA-Abkommen mit Kanada oder das deutsch-australische Abkommen sind noch nicht vollständig umgesetzt.“
70% auch ohne USA regelbasiert
Johannes Gernandt, neuer Chefvolkswirt beim Verband deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), ergänzte, dass „70% des Welthandels auch ohne die USA regelbasiert sind. Wir müssen jetzt als EU aktiv in den Raum eintreten, indem man fair miteinander Handel treibt. Darin liegt eine große Chance. Wir brauchen Freihandel und Arbeitsteilung.“ Cathryn Clüver Ashbrook, Harvard-Politologin und für die Bertelsmann-Stiftung tätig, vermutet, dass es auch aus Richtung der USA nicht ganz so schlimm kommt, wie bisweilen befürchtet. „Trump veranstaltet zwar ein einziges erratisches Theater“, sagte Ashbrook, die auch in Amerika verwurzelt ist. Vieles lasse sich aber nicht umsetzen, da er nur der Kopf eines Systems sei. „Weil innerhalb der US-Administration viele Interessen zusammenkommen, die sich konterkarieren, wird diese Politik in sich zusammenfallen wie ein Soufflé. Doch das Problem ist, dass wir Europäer nicht aus der ersten Amtszeit gelernt haben.“
Philip Rauchhaus, Führungskraft bei Lufthansa Cargo, erklärte, dass das „New Normal“ zwei Jahre nach der Pandmie nie eingesetzt habe, auch weil sich die Supply-Chain-Kosten ständig verändern würden. Anders Indset sprach über die Verfügbarkeit und die Kosten von Energie. „Die Grenzkosten für Energie werden in den kommenden Jahren rasant sinken. Wir sprechen bald nicht mehr von Nachhaltigkeit, sondern von Effizienz. Wenn wir effizient mit Ressourcen umgehen, agieren wir automatisch nachhaltig.“ Und: „Wir müssen wieder mehr Lust auf die Zukunft verspüren.“

Christiane von Berg. © Yves Otterbach/Coface
Christiane von Berg, Coface-Volkswirtin für die Benelux-Staaten und die DACH-Region, hatte sich bei ihrer Analyse fünf aktuelle Risiken für die deutsche Wirtschaft herausgepickt: Lieferkettenprobleme, eine geringere Nachfrage aus dem Ausland, speziell durch die US-Zollpolitik, eine geringere Nachfrage im Inland, hohe Inflation und Zinsen sowie die Zahl der Insolvenzen. „Letztere nehmen deutlich zu“, erklärte von Berg, „darauf sollten wir unseren Blick richten.“ Die absolute Zahl der Insolvenzen sei im Vergleich zum Zeitraum von vor 2015 zwar nicht hoch, aber es stünden große Unternehmen dahinter – und damit hohe Schadenssummen. In diesem Zuge rief die Ökonomin auch dazu auf, noch bis zum 22. Juni an der Coface-Zahlungserfahrungsstudie teilzunehmen.
Große Resilienz in Deutschland
Jochen Böhm, der die Kreditprüfung bei dem Kreditversicherer verantwortet, erklärte auf dem Nachmittagspodium: „Wir neigen in Deutschland derzeit dazu, uns auf den Lorbeeren auszuruhen. Auch wenn der Maschinenbau nach wie vor top ist, gibt es auch hier und in anderen Branchen immer mehr Wettbewerber in der Welt.“ Böhm betonte aber auch: „Wir haben eine große Resilienz in der deutschen Wirtschaft.“ Karina Szwede, Hauptgeschäfsführerin der IHK Rheinhessen, war weniger optimistisch: „Wir empfehlen unseren Unternehmen, auf neue Märkte zu diversifizieren. Doch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind schlecht. Wir verwalten nur noch und können kaum noch Innovationen vorantreiben.“
Was das bedeutet, schilderte Lasse Schneider, Head of Finance bei der Medialine Group. „Externe Effekte machen uns das Leben schwer. Berichtspflichten selbst werden zum Geschäftsrisiko. Es sind große Fehlentscheidungen getroffen worden. Wir müssen risikobereiter sein und schneller reagieren. Das schaffen wir nur, wenn wir den Bereich Digitalisierung voranbringen und das Potenzial der KI nutzen.“
Die neue Regierung macht Hoffnung
„Als Exportnation sind wir von den Zöllen besonders stark betroffen, nicht nur aus Richtung der USA, sondern auch von den Gegenmaßnahmen“, sagte Frank-Peter Ziegler, Partner und Leiter der Indirect Tax bei EY. Gleichzeitig habe man den niedrigsten Stand an ausländischen Direktinvestitionen seit 2011. „Doch die neue Regierung macht Hoffnung“, auch das Sondervermögen Infrastruktur. Zum Abschluss des diesjährigen Kongresses war Bewegung angesagt. Die Teilnehmenden konnten sich an sechs Infohubs mit Expertinnen und Experten auf den Gebieten USA, China, Europa, Energie, Automotive/Metall/Maschinenbau und Zölle austauschen oder nur den Vorträgen lauschen.