Die Innovationszyklen werden kürzer, sogar die Innovatoren selbst kommen mit der Entwicklungsgeschwindigkeit oft nicht mehr mit. Wie sollen dann erst Mittelständler mit KI, Dekarbonisierung, Digitalisierung und Co. umgehen? Diese Strategien gibt es.
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Im Frühjahr letzten Jahres wurde es den KI-Spezialisten zu viel. „Künstliche Intelligenz stresst mich“, sagte Elon Musk, der mit Tesla einer der Treiber des autonomen – also KI-gestützten – Fahrens ist. Zusammen mit Wissenschaftlern vom Alphabet-KI-Arm DeepMind, einem der „Paten der KI“, KI-Professoren und Tausenden anderen Unterzeichnern forderte er ein sechsmonatiges Entwicklungsmoratorium für Künstliche Intelligenz.
Tenor des Moratoriums: Die Entwicklung geht zu schnell, es fehlen regulatorische Leitplanken, die Menschheit könnte bald vollkommen überfordert sein. Eine Atempause brauchten offenbar nicht nur Regulierer und „Menschheit“, sondern vor allem die Unterzeichner selbst. Denn ihre Konkurrenz, die Führenden im KI-Wettlauf wie OpenAI oder Midjourney, fehlte auf der Liste.
Das Moratorium kam bekanntlich nicht zustande. Google und Co. haben ihre Entwicklungsgeschwindigkeit erhöht, Musk baut sein eigenes KI-Unternehmen („xAI“) auf. Beinahe im Wochentakt erscheinen neue Forschungsergebnisse und Testversionen mit noch mächtigerer KI. Zugleich beginnt die Tech-Revolution schon jetzt, ihre eigenen Kinder zu fressen: Nur neun Monate nach einer 125-Mio-USD-Kapitalspritze – bei einer Bewertung von 1,5 Mrd USD – entließ das KI-Schreibtool-Start-up Jasper Mitarbeiter. Vermutlich schon bald wird die Nachfrage weiter sinken, weil Textgenerierung Bestandteil von Standardsoftware wie Word werden wird. Weitere Unternehmen dürften folgen.
Mit Vollgas in die Ungewissheit
Was auf uns zukommt, welche Auswirkungen uns drohen, ja nicht einmal ihre Systeme selbst können die KI-Spezialisten vollständig erklären. Wenn aber schon die Kenner der Materie überfordert sind, wie soll es dann erst Unternehmen ergehen, die von KI zwar betroffen, aber keine Experten sind?
Künstliche Intelligenz ist nicht die einzige Technologie, die massive Disruptionen verursachen dürfte. Auch das Ende fossiler Energieträger, Entwicklungen in der Genforschung oder die im Sommer 2023 vorschnell reklamierte Erfindung von Supraleitern bei Zimmertemperatur könnten künftig unterschiedlichste Bereiche wie Medizin, Biologie, Umweltschutz oder Fertigung verändern. Allein aus dem KI-Innovationszyklus droht ein sich selbst verstärkender Zyklon zu werden: Je leistungsfähiger künstliche Gehirne werden, desto schneller können weitere Innovationen entwickelt, getestet und ausgerollt werden.
Wohl jeder Unternehmer spürt, dass sich das Rad der Innovationen immer schneller dreht. Die bloßen Daten sind dabei aber weniger schwindelerregend: Weltweit nahm die Zahl der Patente in den vergangenen Jahren zwar zu, doch jährlich nur um etwas über 4,2%. Die Zahl der „Patentfamilien“, die jeweils auf einen grundlegenden Durchbruch hinweisen könnten, wächst jährlich immerhin um knapp 6%.
Allerdings können schon wenige Patente weitreichende Auswirkungen haben. Und die Statistik zeigt: Die Innovationszyklen verkürzen sich um jeweils fünf bis zehn Jahre. Dauerte die erste Innovationswelle ab 1785 mit Wasserkraft, Textilien und Eisen noch 60 Jahre, ist die 1990 gestartete fünfte Welle der Digitalisierung nur noch halb so lang. Und die aktuelle sechste mit KI, Robotik und Cleantech dürfte gerade einmal 25 Jahre währen.
Unternehmen reagieren auf Innovationen mit zwei Verhaltensmustern: abwarten und reagieren. Dabei gibt es kein grundsätzliches Richtig oder Falsch. Liegen die Anpassungskosten über den Opportunitätskosten, lohnt es sich abzuwarten. Ansonsten sollten Unternehmen schnell reagieren.
Was setzt sich durch?
Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Das Problem beginnt mit der Berechnung der Opportunitäts- und Anpassungskosten. Gerade bei sehr frühen Innovationsphasen ist unklar, in welchem Umfang sich welche Innovation durchsetzen wird: VHS oder Betamax? Bei Disruptionen – besonders aus anderen Branchen – ist die Beurteilung der Folgen noch viel schwieriger; das gesamte Geschäftsmodell von Branchen kann sich ändern. Weil zudem im Technologiebereich Neuerungen im Wochentakt erscheinen können, wird eine Kalkulation beinahe unmöglich. Wie schnell sinken die Kosten? Wann wird eine noch bessere Innovation die aktuelle ablösen?
Diese Unsicherheit führt dazu, dass viele Unternehmen abwarten. Manchmal zahlt sich das aus. „Der 3-D-Druck hat sich längst nicht so schnell durchgesetzt wie prognostiziert“, sagt Christian Hesse, der bei der Deutschen Bank viele junge Technologieunternehmen betreut. Manchmal steckt große Vorsicht dahinter, weil man seinen Kunden keine halbgaren Produkte anbieten möchte. Das sei verständlich, sagt Hesse, könne aber auch seinen Preis haben: „Etliche entwickeln große Sprachmodelle wie ChatGPT. Aber OpenAI ist vorgeprescht und hat damit alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Auch wenn das Produkt noch nicht ausgereift ist.“
Manchmal steckt dahinter auch Trägheit. Selbst zwei Jahrzehnte nach Beginn des E-Commerce und dem Aufkommen des sog. Internet of Things hinken etliche mittelständische Unternehmen der digitalen Transformation weiter hinterher, die Digitalisierung ihrer Geschäftsmodelle und Prozesse sowie die notwendige Qualifizierung ihrer Mitarbeiter stehen erst am Anfang. Dabei ist die Innovationsgeschwindigkeit – sichtbar an den inkrementellen Veränderungen bspw. von Smartphones – längst gesunken, die Kosten sind einfacher zu kalkulieren.
Bloß kein Innovationstheater
Andererseits: Wer es so lange analog geschafft hat, glaubt irgendwann, von der Disruption auch künftig verschont zu bleiben. Doch das kann sich als Fehlkalkulation erweisen, wie etwa der stationäre Handel während der Corona-Lockdowns feststellen musste. Und Unternehmen, die den Umgang mit aktuellen Innovationen nicht erlernt haben, könnten von dem nächsten Innovationszyklus erst recht überrollt werden.
Viele Unternehmen sehen dieses Risiko und möchten sich der Innovation öffnen. Zugleich wollen und können sie aber das bestehende, erfolgreiche Geschäftsmodell schon aus finanziellen Gründen nicht einfach aufgeben. Sie versuchen daher, beides miteinander zu verbinden. Heraus kommt oft nur das, was der Stanford-Professor Steve Blank als „Innovationstheater“ bezeichnet: Unternehmen starten Hackathons, Design-Thinking-Gruppen oder Innovationsworkshops und versuchen so, die Belegschaft auf Änderungen einzustimmen. Oder sie veranstalten das „Organisationstheater“: Externe Managementberater werden engagiert, um die Organisation umzustricken, zumeist in eine Matrixorganisation. Oder sie ändern ihre Prozesse und Metriken, da die bestehenden ein Innovationshemmnis darstellen.
Am Ende dieser Aktivitäten, kritisiert Blank, sei zwar das Unternehmen umgebaut, doch materiell sei wenig gewonnen. Die Auswirkungen auf Marge, Marktanteil oder Umsatz blieben minimal. Änderungen an Organisation und Prozessen sowie eine Innovationskultur seien nur dann erfolgreich, wenn es eine schlüssige Zukunftsstrategie gebe. Die fehle jedoch meist.
Abkürzung über Akquisitionen
Aber nicht überall. Vielen Großunternehmen war während ihrer digitalen Transformation bewusst, dass sie Innovator und Traditionsteil trennen müssen, damit der Treiber nicht von der Bestandsstruktur erdrückt wird. Damit es noch schneller geht, verfolgen Cash-starke Unternehmen wie die US-Tech-Giganten einen M&A-Ansatz: Disruptoren werden aufgekauft. So hat Facebook (inzwischen Meta) die Risiken erfolgreicher Innovatoren wie Instagram, WhatsApp oder Oculus VR reduziert. Microsoft partizipiert mit einer Beteiligung am ChatGPT-Entwickler OpenAI direkt am KI-Boom. Google verfolgt mit der Beteiligung an OpenAI-Wettbewerber Anthropic eine ähnliche Strategie. Der Vorteil: Die Disruptoren bleiben in ihrem Innovationsdrang weitgehend unabhängig von den Bestandsstrukturen und können so das Tempo hochhalten. Zugleich hat der Konzern direkten Zugriff auf die neuen Technologien; Microsoft arbeitet mit Hochdruck an der tiefen Integration von OpenAI-Produkten in die etablierte Office-Produktwelt.
Eine dritte Möglichkeit für innovationsbereite Unternehmen sind Kooperationen. Dabei bieten etablierte Unternehmen oft Zugang zu ihren Daten, Kunden oder Bestandsprodukten und erhalten im Gegenzug exklusiven Zugang zu innovativer Technologie. Die Kosten sind deutlich geringer als bei der Akquisition, aber oft auch das Erlöspotenzial.
Risikolos sind allerdings Akquisitionen und Kooperationen nicht. Hesses Kollegin Eike Bieber empfiehlt, sich die Businesspläne von Tech-Start-ups genau anzuschauen, da manche aus finanziellen Gründen ihre Vorhaben zu ambitioniert darstellen könnten. Auch gelingt es längst nicht jedem, konzernweit die Früchte des Innovationspartners zu ernten; manchmal bleiben Innovationsleuchttürme Solitäre.
Eins sollten Unternehmen allerdings niemals tun: Innovationen ignorieren. So schnell das Rad der Innovationen sich auch dreht, Unternehmer kommen nicht umhin, sich à jour zu halten – und sei es nur, um beruhigt für sich zu urteilen, dass noch Zeit bleibt, das eigene Unternehmen den neuen Entwicklungen anzupassen.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Bank. Den dazugehörigen Link finden Sie HIER