Venture Capital ist in Deutschland inzwischen etabliert – und nötig, um Innovation zu finanzieren. Angesichts aktueller Krisen aber sitzt das Geld der Investoren weniger locker. Was bedeutet das für Gründer und den hiesigen Standort?

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Das Einhorn ist ein Fabeltier. Falsch – zumindest in der Wirtschaft gibt es Einhörner tatsächlich. Als solche bezeichnet der Kenner Start-ups, also Jungunternehmen, die mit mehr als 1 Mrd EUR bewertet sind. Auch hierzulande tummeln sich einige wie das HR-Software-Unternehmen Personio oder der Übersetzungsdienst DeepL. Doch die Einhörner sind selten und Ausnahmen der deutschen Gründerszene. Für diese gilt noch immer: Acht von zehn Start-ups scheitern. Und selbst diejenigen, die letztlich reüssieren, verdienen in den ersten Jahren meist kein Geld, sondern verbrennen regelrecht Kapital. Klassische Kreditgeber prüfen darum genau, wenn es um Start-up-Finanzierungen geht.

Vertrauen auf den künftigen Erfolg

Andere Geldgeber haben allein diese Zielgruppe im Fokus und finanzieren Jungunternehmen gezielt: Venture-Capital-Gesellschaften. Diese Wagniskapitalgeber beteiligen sich mit Eigenkapital an ihren Portfolio-Unternehmen. Dabei vertrauen sie auf den künftigen Erfolg der von ihnen finanzierten Firma. Der zahlt sich für sie nicht in ausgeschütteten Gewinnen, sondern in einem hohen Preis beim Verkauf ihrer Anteile aus. Die können an der Börse platziert (jüngst eher selten), an eine andere Beteiligungsgesellschaft, an einen Strategen und im Late-Stage-Fall auch an einen Private-Equity-Investor veräußert werden.

Die Anlageklasse Venture Capital ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen. Eine Erhebung von Deutsche Bank Wealth Management zeigt: Von 2015 bis 2020 lag die jährliche Wachstumsrate der weltweiten Venture-Capital-Anlagen bei 13,5%. Dann allerdings änderte sich 2020 das weltwirtschaftliche Klima infolge des Ausbruchs der Corona-Pandemie drastisch. Auf die Unsicherheit reagierten auch die Wagniskapitalgeber. Das Gesamtvolumen des investierten Kapitals sank um 400 Mio EUR. Enrico Reiche, Partner bei PwC Deutschland und dort Experte für Venture-Capital-Transaktionen, wertet seit vier Jahren zusammen mit Prof. Dirk Honold und seinem Partnerkollegen Gerhard Wacker in der Venture-Capital-Marktstudie das Geschäftsklima in der Branche aus. Er bestätigt: „2020 war v.a. in den ersten Monaten von großer Sorge und Unsicherheit geprägt.“

Doch die noch junge Anlageklasse hat sich schnell gefangen – schon in den letzten Wochen 2020 startete eine Erholung, die 2021 zu einem Rekordjahr für Venture-Capital-Investitionen in Deutschland machte. „Es war zügig klar, dass die meisten Aktivitäten und insb. Geschäftsmodelle remote gut oder sogar besser funktionieren“, erklärt Reiche. „Gepaart mit dem weiter bestehenden Niedrigzinsumfeld führte diese Erkenntnis zu einer regelrechten Aufholjagd.“

Wagniskapital im Sinkflug

Mit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine, der Zinswende und der steigenden Inflation endete die Rallye allerdings 2022 abrupt wieder. Dieses Umfeld, betont Enrico Reiche, veränderte sich 2023 kaum und führte zu einem erneuten Einbruch. Das neue Start-up-Barometer der Unternehmensberatung EY spricht denn auch für das Gesamtjahr 2023 von einem „Sinkflug“.

Nun lässt aktuell weder die Weltlage noch die Situation in Deutschland darauf schließen, dass das Geld bei Investoren in den nächsten Monaten wieder lockerer sitzt. Wie also steht es um Finanzierungen für junge Geschäftsideen? Denn so viel ist klar: Nur wenn Innovationen ausreichend mit Kapital ausgestattet sind, lässt sich die Transformation und damit die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft garantieren.

Die Experten des Bundesverbandes Beteiligungskapital (BVK) sind der klaren Meinung: Da ist noch Luft nach oben. In einer Publikation von Anfang 2023 erklären die Autoren um Ulrike Hinrichs aus dem Vorstand des BVK: „Start-ups sind der Mittelstand von morgen und junge Technologieunternehmen zentrale Wachstumstreiber und Gestalter von Transformationsprozessen. Ihr Potenzial bleibt aber noch immer in großen Teilen ungenutzt, weil es in Europa im Allgemeinen und in Deutschland im Besonderen trotz positiver Entwicklungen nach wie vor an genügend Wagniskapital fehlt.“ Daraus ergebe sich „dringender Handlungsbedarf“, um die wirtschaftliche und technologische Position des Landes, die „damit untrennbar verbundene wirtschaftliche Souveränität und somit unseren Wohlstand“ zu sichern.

Lücke gegenüber GB und USA

Enrico Reiche ordnet ein: „Deutschland hat in den letzten Jahren ein solides Ökosystem für Venture Capital aufgebaut. Dennoch klafft weiterhin eine Lücke gegenüber anderen Staaten wie Großbritannien oder – allen voran – den USA.“ In den genannten Ländern wird sowohl in Relation zum Bruttoinlandsprodukt als auch pro Kopf mehr in Jungunternehmen investiert. Das sieht Reiche mit Sorge: „Vor 30 oder 40 Jahren wurden die meisten Innovationen in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen großer Unternehmen erdacht. Das ist heute anders. Deutschland ist in der vernetzten und digitalen Welt angewiesen auf Neuerungen aus Start-ups. Innovationen sind der Kraftstoff für künftige Wirtschaftsentwicklungen.“

Um wettbewerbsfähig zu bleiben, postuliert der Experte, muss die Bundesrepublik ihr Venture-Capital-Ökosystem weiter stärken. Ursula Walther, Analystin bei Deutsche Bank Research, schließt sich an: „Start-ups spielen eine zentrale Rolle dabei, Innovationen voranzutreiben und neue Technologien zur Marktreife zu bringen. Sie entwickeln Produkte, die die Transformation der Wirtschaft voranbringen.“

Ähnlich bewerten Walther und ihre Kollegen auch die Finanzierungslandschaft, wobei sie nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa in den Blick nehmen. In der aktuellen Studie „Strong risk capital markets – vital for unlocking green & digital innovations” identifizieren die Autoren vier strukturelle Schwächen, die angegangen werden müssen, um die Venture-Capital-Branche wettbewerbsfähig zu machen und Jungunternehmen in die Lage zu versetzen, ihre Produkte zur Marktreife zu bringen und zu skalieren:

1. Europa muss es schaffen, mehr Wagniskapital anzuziehen.
2. Es braucht Fonds, die größere Summen investieren können.
3. Die Fragmentierung innerhalb des Wagniskapitalmarktes der EU muss überwunden werden.
4. Exit-Optionen müssen verbessert werden.

Dazu braucht es eine gemeinsame Anstrengung der Politik sowie der Konzerne und etablierten mittelständischen Unternehmen. Sowohl die öffentliche Hand als auch die private Seite müssen in Venture-Capital-Fonds investieren und über diese Vehikel die Finanzierung vielversprechender Geschäftsmodelle gewährleisten.
Doch wo soll das private Wagniskapital herkommen? „Wir sehen Potenzial bei Pensionskassen und Versicherungen“, sagt Walther. „Auch öffentliche Investitionen können helfen, zusätzliche private Investitionen zu mobilisieren.“ Bei den Fondsgrößen tue sich bereits etwas, betont die Expertin: „Verschiedene staatliche Initiativen fördern das Entstehen größerer Fonds, die auch Finanzierungsrunden mit massivem Kapitalbedarf stemmen können – bspw. die European Tech Champion Initiative oder der deutsche Zukunftsfonds.“

Exit-Markt verbessern

Doch Wagniskapital ist immer eine Investition auf Zeit, für die Investoren kommt alles auf den richtigen Verkauf an: „Hier werden im Idealfall die Gewinne der Investitionen realisiert“, erläutert Walther. „Das wird von Investoren von Anfang an mitgedacht, und ein schwacher Exit-Markt, wie es ihn in der EU im Vergleich zu den USA gibt, hält mitunter davon ab zu investieren.“ Sie unterstreicht aber auch: „Die EU und Deutschland arbeiten daran, Börsengänge für Start-ups zu vereinfachen.“ Konkret bräuchte es aber erst einmal eine Kapitalmarktunion der EU.

Mitentscheidend für die Finanzierungslandschaft bleibt darüber hinaus die Entwicklung der Wirtschaft, und zwar global sowie hierzulande. Die momentane Unsicherheit dürfte nicht dauerhaft anhalten, sofern weitere Krisen uns verschonen. Das macht eine neue Aufholjagd analog zu 2021 wahrscheinlich. Voraussichtlich gegen Ende des Jahres, spätestens 2025 könnte sich laut dem Experten Reiche ein IPO-Fenster öffnen. Dann können diejenigen Unternehmen, die innovative Lösungen entwickeln und solide aufgestellt sind, wieder mit mehr Kapital rechnen. Und bis dahin sollten Investoren nicht zu sehr auf ihren Mitteln sitzen: „Wer tiefe Taschen hat, kann sich jetzt positionieren“, sagt Reiche. „Die Bewertungen sind niedrig und Investoren können sich vergleichsweise günstig in gute Start-ups einkaufen.“

Klasse statt Masse

Diese Haltung teilen die Experten von EY – und sehen, dass Wagniskapitalgeber selektiv sehr wohl weiter investieren. EY-Partner Dr. Thomas Prüver schreibt: „Investoren agieren nach wie vor sehr zurückhaltend. Solide und gut durchdachte Geschäftsmodelle in Verbindung mit realistischen Umsatzprognosen und der Aussicht auf Profitabilität sind in den Augen der Geldgeber aktuell das A und O.“ Klasse statt Masse lautet also die Devise.

Was ist nun der Status quo? Der Venture-Capital-Markt hat sich abgekühlt, die Investitionen sind zurückgegangen. Positiv daran ist nur eines: Die in der Vergangenheit teils unrealistischen Bewertungen der Jungunternehmen sind gesunken. Finanziert wird im Moment, wer ein solides Geschäftsmodell und eine echte Innovation vorweisen kann. Diese Unternehmen wiederum sind für Investoren (noch) günstig zu haben.

Doch auch diejenigen, die sich seit Jahren eine entsprechende Abkühlung des Venture-Capital-Markts gewünscht haben, weil ihrer Einschätzung nach zu viel Geld in zu wenig Substanz investiert wurde, müssen sich langfristig wünschen, dass (wieder) mehr Kapital in die Anlageklasse fließt. Denn die Experten liegen richtig, wenn sie betonen, dass Start-ups Wachstumstreiber sind – und künftiger Wohlstand ohne sie nicht entstehen wird. Venture Capital in Deutschland ist noch immer nicht konkurrenzfähig mit anderen Märkten. In einer gemeinsamen Kraftanstrengung von Politik, Wirtschaft und Gründern muss sich das ändern. Dann kann sich der Geldgeber und der Standort auch die eine oder andere Fehlinvestition leisten. Denn eines steht fest: Das nächste Einhorn kommt bestimmt. Im Moment tummeln sich die seltenen Tierchen vor allem in den USA, 625 waren es dort 2022. Zum Vergleich: In Deutschland waren es 36. Mehr Kapital lockt sie künftig vielleicht auch häufiger zu uns.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Bank. Den dazugehörigen Link finden Sie HIER

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