Am Ende einer Krise bieten sich oft die besten Kaufgelegenheiten. So könnte es auch deutschen Unternehmen gehen, die derzeit den Weg nach Brasilien suchen. Kontakte vor Ort bietet unter anderem das brasilianische Unternehmernetzwerk LIDE, das am 31. August 2017 in Hamburg ein Business and Investors Forum Brazil veranstaltete. Die folgenden Statements der Redner geben einen aktuellen Eindruck von der Situation vor Ort.
Von Gunther Schilling, Leitender Redakteur ExportManager, FRANKFURT BUSINESS MEDIA
Erholung von der Krise
„Niemand hat sich vorstellen können, dass es noch einmal eine solche Krise geben würde.“ Der brasilianische Unternehmer und frühere Vorsitzende des brasilianischen Außenhandelsrates CAMEX, Roberto Gianetti da Fonseca, brachte die Stimmung in Brasilien im Rückblick auf die vergangenen Jahre auf den Punkt. In seinem Vortrag machte er deutlich, in welcher Lage sich Brasilien derzeit im historischen Vergleich befindet, gab aber einen positiven Ausblick.
Gianetti hofft auf eine schnelle wirtschaftliche Erholung, wie sie bereits mehrfach in den vergangenen Jahrzehnten gelungen sei. Anders als in früheren Krisen verfüge Brasilien heute über hohe Währungsreserven, die die Auslandsschulden komplett deckten. Handelsbilanzüberschüsse und Auslandsinvestitionen trügen zur außenwirtschaftlichen Stabilität bei. Die Bedeutung Brasiliens für die Nahrungsmittelsicherheit der Welt würde angesichts der steigenden Weltbevölkerung insbesondere in China und Indien zunehmen.
Für eine Belebung der Binnenwirtschaft komme es nun auf den Abbau der Arbeitslosigkeit und die Stärkung der Privatwirtschaft durch die Umsetzung der eingeleiteten Reformen an. Die hohe Inflation sei bereits im Rückgang begriffen, und auch die Zinsen könnten nun zurückgenommen werden. Dies erleichtere den Unternehmen und Haushalten, deren Verschuldung zuletzt abgenommen habe, die Kreditaufnahme, folgerte Gianetti.
Erste Wachstumssignale
Tatsächlich kommt die brasilianische Wirtschaft seit dem Frühjahr 2017 wieder voran. Das reale Bruttoinlandsprodukt stieg im zweiten Quartal um 0,3% gegenüber dem Vorjahr – das erste Wachstum seit drei Jahren. Auch wenn vor allem die Landwirtschaft und der Bergbau dazu beigetragen haben, gehen von dem Mehrertrag doch positive Impulse für die Nachfrage aus, die vor allem den privaten Haushalten zugutekam. Hier wirkten sich auch die rückläufige Inflationsrate und die sinkenden Zinsen positiv aus.
Aussichtsreiche Branchen
André Müller Carioba, ehemaliges Mitglied des Vorstands von AGCO Südamerika und ehemaliger Präsident von BMW do Brasil, wies auf die schwache Nachfrage nach Ausrüstungen und Maschinen hin. Die verarbeitende Industrie befinde sich weiter in einer schwierigen Situation. Allerdings berge zum Beispiel die Automobilindustrie einiges Innovationspotential, da in Brasilien vor allem Pkw mit flexibler Brennstoffnutzung verbreitet seien. Anders als in Deutschland sei man von der Diskussion um Diesel- und Elektroantrieb daher kaum betroffen.
Fabiana Oscari-Bergs, Geschäftsführerin von LIDE Deutschland, sieht vor allem Chancen in der Nutzung erneuerbarer Energien. Brasilien bezieht rund 70% seines Stroms aus Wasserkraft und möchte diesen Anteil durch einen stärkeren Beitrag von Solar- und Windkraft um 20% reduzieren. Dazu wurde jedem Bürger erlaubt, selbst Strom zu produzieren und die überschüssige Strommenge in das Stromnetz einzuspeisen. Sie betont zudem das Innovationspotential, das die große Zahl an Start-ups als Motoren der Innovation bietet. Und sie sieht einen Vorteil für Digitalisierungsprojekte darin, dass die Regelungen zum Datenschutz in Brasilien nicht so streng sind wie in Deutschland.
Reformen sind eingeleitet
Müller Carioba bedauert, dass die Arbeitsmarktreformen bisher kaum vorankommen. Deutsche Investoren müssten sich auf starke Gewerkschaften einstellen und eine Vielzahl von Einzelgewerkschaften. Die Lohnkosten seien sicherlich deutlich niedriger als in Deutschland, aber die Lohnnebenkosten überstiegen schnell die 100%-Marke, und die Produktivität sei tendenziell geringer, gibt Müller Carioba zu bedenken. Er empfiehlt eine erfahrene Personalführung in der Geschäftsleitung mit lokalen Kräften.
Die Subventionen der hochverschuldeten Investitionsbank BNDES müssen nach Ansicht von Müller Carioba heruntergefahren werden, aber es sei fraglich, ob das noch unter der Regierung Temer gelinge. Auch Oscari-Bergs betont die Bedeutung der Renten- und Arbeitsmarktreformen. Dadurch könnten die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern flexibler gestaltet werden. Weitere wichtige Maßnahmen wären der Abbau der Importrestriktionen und der Abschluss eines Doppelbesteuerungsabkommens. Müller Carioba sieht die Wirtschaftspolitik weiterhin auf Importrestriktionen ausgerichtet. Sie wolle die lokale Ansiedlung von Investitionen – und damit Arbeitsplätze und Exporte. Das Freihandelsabkommen mit der EU hält Müller Carioba zwar für sehr wünschenswert, rechnet aber nicht mit einem schnellen Abschluss. Auch der regionale gemeinsame Markt „Mercosul“ funktioniere leider seit vielen Jahren nicht.
Oscari-Bergs sieht eine weiterhin verhaltene Stimmung in der Wirtschaft und würde es schon als Erfolg werten, wenn die Wirtschaft im kommenden Jahr wenigstens um 1% wachsen würde. Im Moment erhole sich der Außenhandel, die Investitionen müssten folgen. Brasilianische Unternehmen seien wegen des schwachen Brasilianischen Real derzeit günstig und böten eine gute Möglichkeit, in den Markt einzusteigen. Aber ein Engagement solle langfristig angelegt sein, es erfordere einen langen Atem. Man könne die sensiblen Teile, in denen das Know-how steckt, importieren. Aber ein gewisser Teil solle vor Ort produziert oder eingekauft werden.
Brasilien sei ein guter Ort, um zu experimentieren, aber nichts für Anfänger, fasst Oscari-Bergs die Rahmenbedingungen vor Ort zusammen. Mit dem richtigen Netzwerk und professioneller Begleitung biete der brasilianische Markt hervorragende Möglichkeiten für ausländischen Unternehmen. In vielen Sektoren sei der Markt nicht so gesättigt wie beispielsweise in Deutschland.
gunther.schilling@frankfurt-bm.com