Selbst wenn sich die Erwartungen an das EU-Mercosur-Abkommen nicht erfüllen sollten und manche Entwicklungen noch nicht abzuschätzen sind: Lateinamerika mit seinen 650 Millionen Einwohnern bleibt ein interessanter Absatzmarkt!

Auch wenn Lateinamerika zuletzt nicht im Fokus des deutschen Außenhandels stand: Covid-19 hat – gerade wegen seiner beachtlichen Auswirkungen vor Ort – vieles in Bewegung gebracht, was einzelne lateinamerikanische Länder in der Zeit nach Corona stärken und attraktiver machen wird. Ein Grund mehr, genauer und differenzierter hinzuschauen.

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In der öffentlichen Wahrnehmung Lateinamerikas dominiert zurzeit neben dem brasilianischen Präsidenten Bolsonaro und den Brandrodungen im Amazonasgebiet vor allem das Ausmaß der Coronapandemie: Insgesamt gehört Lateinamerika zu den am stärksten betroffenen Regionen überhaupt – doch die Situation in den einzelnen Ländern ist höchst unterschiedlich. Selbst dort, wo ein langer Lockdown zu tiefen Einschnitten im Bruttoinlandsprodukt (BIP) führte, gibt es Aspekte, die zu Hoffnungen berechtigen: Dazu gehören die engen Wirtschaftsbeziehungen auf den Süd-Süd-Handelsrouten nach China und Fernost, ein stabiles Bankensystem, die hohe Akzeptanz des „Made in Germany“ und deutliche Fortschritte in der Digitalisierungsagenda. Selbst wenn sich die Erwartungen an das EU-Mercosur-Abkommen nicht erfüllen sollten und manche Entwicklungen noch nicht abzuschätzen sind: Lateinamerika mit seinen 650 Millionen Einwohnern bleibt ein interessanter Absatzmarkt!

Vorbild Uruguay

Uruguay beispielsweise hat seit mehr als einem Jahrzehnt stark in den Gesundheitssektor investiert. Das Land zeichnet sich zudem im Vergleich mit seinen Nachbarn durch ein höheres Bildungsniveau und ein niedrigeres soziales Gefälle aus. Als das Virus Uruguay im März 2020 erreichte, konnte die Regierung auf einen wissenschaftlichen Beraterstab zurückgreifen, kurze Zeit später standen flächendeckend Tests zur Verfügung. So dürfte der BIP-Rückgang im laufenden Jahr mit 3,0% eher moderat ausfallen, für 2021 wird bereits wieder ein Plus von 5% erwartet.

Argentinien: gute Substanz trotzt aktuellen Belastungen

Argentinien dagegen befindet sich seit drei Jahren in der Rezession, die sich wegen des radikalen und langen Lockdowns noch vertieft hat. Haushalts- und Inflationsprobleme sowie eine immer stärkere Devisenbewirtschaftung hemmen die Erholung. In dieser schwierigen Zeit wollen manche Banken die Absicherung von Argentinien-Risiken nicht mehr begleiten.

Zu einem realistischen Bild von Argentinien gehört auch, dass das Land starke Unternehmen und erfahrene Manager hat, die wissen, wie man mit widrigen wirtschaftlichen Bedingungen umgeht. Anzuerkennen ist zudem, dass die Regierung bemerkenswerte Fortschritte dabei gemacht hat, das Problem der hohen Auslandsverschuldung in den Griff zu bekommen. Argentinien verfügt über einen leistungsfähigen und modernen Agrarsektor sowie eine diversifizierte Industrie mit qualifizierten und gut ausgebildeten Arbeitskräften. IT und digitale Dienstleistungen genießen einen hohen Stellenwert. Wenn das Land seine kurzfristigen Herausforderungen meistert, insbesondere im Bereich der Währungspolitik und Inflationsbekämpfung, wird auch die Wirtschaft davon profitieren.

Chinas Interesse an Lateinamerika

In zahlreichen lateinamerikanischen Ländern hat China die USA als größten Handelspartner abgelöst. Heute stellt China den wichtigsten Zielmarkt für Exporte aus Brasilien, Chile, Peru und Uruguay dar, außerdem den zweitwichtigsten für Costa Rica sowie den drittwichtigsten für Argentinien und Kolumbien.

Der Süd-Süd-Handelskorridor spielt in Lateinamerika daher eine besondere Rolle – und das ist im aktuellen Pandemiekontext eine gute Nachricht: China und der Ferne Osten waren zuerst von Corona betroffen und erholten sich entsprechend auch zuerst. Dies lässt auf eine raschere Normalisierung der Exporte von Rohstoffen aus Lateinamerika hoffen, den wichtigsten Exportprodukten der Region.

Vertrauensvorsprung für „Made in Germany“

Auch wenn das Handelsvolumen nicht dem mit China entspricht: Deutsche Unternehmen und ihre Töchter sind in Lateinamerika gut etabliert. Im Allgemeinen genießt „Made in Germany“ eine hohe Wertschätzung, insbesondere mit Blick auf Qualität und Zuverlässigkeit – entscheidende Kriterien gerade bei medizinischen Geräten und Arzneimitteln. Daraus ergeben sich attraktive Konstellationen für deutsche Unternehmen, da vielerorts nach den Covid-19-Erfahrungen die Investitionen in den öffentlichen Gesundheitssektor steigen.

Außer im medizinischen und pharmazeutischen Bereich gibt es für deutsche Unternehmen interessante Perspektiven auch in den Sektoren Maschinenbau, insbesondere in der Landtechnik und der Agrarchemie, Öl- und Gasförderung, Elektronikindustrie/Produktion von Konsumelektronik und Haushaltsgeräten sowie IT-Services.

Stabiles Finanzsystem

Zu den positiven Nachrichten aus Lateinamerika gehört außerdem, dass die Banken den Auswirkungen der Coronapandemie bislang gut widerstanden haben. Beim Ausbruch des Virus befanden sie sich in einem relativ guten Zustand mit akzeptablen Eigenkapital- und Liquiditätsquoten – ein Ergebnis der Präventivmaßnahmen nach der letzten globalen Finanzkrise. Anders als in der Vergangenheit haben Regierungen, Aufsichtsbe­hörden und Zentralbanken diesmal wirkungsvoll reagiert.

Lateinamerika goes digital

Wie fast überall in der Welt verändert sich seit Beginn der Pandemie auch in Lateinamerika das Verhalten der Konsumenten. Sie wenden sich zunehmend digitalen Kanälen zu, reduzieren ihre Vorliebe für Bargeld und nehmen den elektronischen Handel in Anspruch.

Dasselbe gilt für Unternehmen, die die Nutzung digitaler Dienste und Kanäle stark erhöht haben. Covid-19 beschleunigt eindeutig die digitale Transformation, die auf der Agenda der Unternehmen inzwischen ganz oben steht. Wenn es beispielsweise um Innovation im Handelsbereich geht, ist ein zunehmendes Interesse von Banken in der Region an Blockchaininitiativen wie Marco Polo festzustellen.

Nachhaltigkeit liegt im Trend

Viele lateinamerikanische Unternehmen legen im Zuge der wirtschaftlichen Erholung mehr Nachdruck auf nachhaltige Praktiken. Entsprechende Überlegungen werden zusehends stärker in geschäftliche Entscheidungen einbezogen, auch wenn Nachhaltigkeit oft noch kein eigenständiges Unternehmensziel ist.

Grüne Kreditprodukte fördern die effiziente Nutzung von Energie (Sonne, Wind, Biomasse und geothermische Quellen) und Wasser durch Projekte im Zusammenhang mit erneuerbaren Energien, industrieller Energieeffizienz, grünen Gebäuden und klimaintelligenter Landwirtschaft. Auch hier ergeben sich Chancen für deutsche Unternehmen, die im Bereich grüner und nachhaltiger Technologien weltweit zur Spitze gehören.

Übertriebene Erwartungen an das EU-Mercosur-Abkommen?

Noch vor einem Jahr setzten Politik und Wirtschaft in Deutschland große Hoffnungen auf das EU-Mercosur-Abkommen mit Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Gerade deutsche Unternehmen könnten stark profitieren, wenn die hohen Einfuhrzölle etwa auf Autos, Maschinen oder Chemieprodukte schrittweise abgeschafft werden. Das Abkommen müssen alle 27 Mitgliedstaaten sowie das EU-Parlament verabschieden. Doch drei europäische Parlamente haben bereits angekündigt, dem nicht zuzustimmen. Vor allem Brasilien unter Präsident Jair Bolsonaro steht im Zentrum der Kritik: Der Umweltschutz, insbesondere der Schutz der Amazonaswälder, werde in den Verträgen nicht genügend berücksichtigt. Außerdem wehren sich europäische Landwirte gegen die höheren Quoten für Agrarimporte aus der Region.

Herausforderungen bleiben

Neben den direkten Auswirkungen auf BIP, Pro-Kopf-Einkommen, Handels- und Investitionsströme etc. bleiben spannende Fragen offen:

  • Wird die Pandemie zu mehr Protektionismus führen, der den gegenseitigen Warenaustausch behindert? Was wür-de das für das EU-Mercosur-Abkommen bedeuten?
  • Wie schnell werden wirtschaftliche und institutionelle Rahmenbedingungen modernisiert und Strukturreformen durchgeführt, um „die Arbeitsplätze der Zukunft“ zu schaffen?
  • Können die lateinamerikanischen Länder die Chance einer Neuordnung der globalen Lieferketten nutzen, gerade vor dem Hintergrund des amerikanisch-chinesischen Handelsstreits? Gelingt eine engere Integration in US-Lieferketten, um einen Teil der asiatischen Importe in die USA zu ersetzen?
  • Wie wird sich die Pandemie auf das lateinamerikanische Sozialgefüge auswirken? Kommt es zu verstärkt populistischen Tendenzen, die den für die internationale Deregulierung und mehr Handels- und Wirtschaftsinitiativen erforderlichen Multilateralismus erschweren?

Wie immer die Antworten ausfallen: Lateinamerika bleibt ein interessanter Absatzmarkt, der allerdings zunehmend differenziert betrachtet werden muss – ein Prozess, der sich durch Covid-19 beschleunigt. Im gegenwärtigen unsicheren Umfeld sind Präsenz vor Ort und Kundennähe wichtiger denn je. International orientierte Unternehmen sollten die Region auf jeden Fall im Auge behalten. Die Commerzbank ist vor Ort vertreten und verfügt über tiefe Kenntnis der lokalen Märkte.

marcos.krepel@commerzbank.com

www.commerzbank.com

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