Der eurasische Staat schlug sich trotz der vielen globalen Krisen bislang erstaunlich gut. Der Preis hierfür scheint aber immer höher zu werden, was sich besonders an der Hyperinflation ablesen lässt. Nun drohen der Türkei nicht zuletzt wegen des steigenden Leistungsbilanzdefizits verstärkt Finanzierungsprobleme im Ausland.

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Obwohl die türkische Wirtschaft infolge der Covid-19-Pandemie im Jahr 2020 und jüngst durch den Krieg in der Ukraine wiederholt von externen Schocks getroffen wurde, ist das reale BIP-Wachstum seit zwei Jahren außerordentlich stark und widerstandsfähig. Mit der Energiekrise in Europa sowie der Null-Covid-Politik und Immobilienkrise in China stehen der globalen Wirtschaftstätigkeit weitere Schocks bevor. Doch trotz dieses starken Gegenwinds wird kurzfristig mit einer unveränderten Widerstandsfähigkeit der türkischen Wirtschaft gerechnet.

Präsident Recep Erdoğan strebt eine Wiederwahl an

Im Vorfeld der für Juni 2023 angesetzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen werden Fördermaßnahmen wie das kürzlich angekündigte Wohnbauprojekt erwartet, mit denen die Wirtschaftstätigkeit gestärkt werden soll. Präsident Recep Erdoğan strebt eine Wiederwahl an, wobei er dieses Mal nach Einschätzung einiger Beobachter einer geeinteren Opposition gegenüberstehen könnte. Die innenpolitischen Probleme sind groß, allen voran die auf die enorme Inflation zurückgehenden hohen Lebenshaltungskosten und der anhaltende Wertverlust der Lira ablenken könnten. Die immer wieder zutage tretenden äußeren Spannungen, insb. im Mittelmeer, könnten allerdings weiter zunehmen und die Wähler von nationalen Problemen ablenken. Längerfristig erscheint ein Abschwung erwartbar und die Risiken, denen die Wirtschaft ausgesetzt sein wird, sind vielfältig. Bislang konnte die Türkei (neuer offizieller Name des Landes: Republik Türkiye) von einer starken Auslandsnachfrage, v.a. aus der EU sowie dem Nahen Osten und Nordafrika, profitieren.

Ihr Haupthandelspartner, die EU, auf die ca. 40% der türkischen Exporte entfallen, leidet aufgrund der Entscheidung Russlands, die Gaslieferungen an den Staatenverbund zu reduzieren, jedoch unter einer Energiekrise. Dies dürfte, je nach Umfang und Dauer dieser europäischen Krise, zu einer Verlangsamung oder sogar zu einem Rückgang der türkischen Exporte in die EU führen. In puncto Binnenwirtschaft rechnen Experten nach den Wahlen mit einer Rücknahme der Fördermaßnahmen. Darüber hinaus wird die Binnennachfrage von einem Rückgang des Realeinkommens infolge der hohen Lebenshaltungskosten gedämpft.

Unorthodoxe Geldpolitik

Auch wenn eine steigende Inflation bei hohen Nahrungsmittel- und Energiepreisen sowie Lieferkettenengpässe ein globaler Trend sind, ist der Inflationsdruck in der Türkei nicht allein durch diese externen Faktoren zu erklären. Er ist auch auf die kontinuierliche Abwertung der Lira und die unorthodoxe Geldpolitik zurückzuführen. Die Zentralbank hat den Zinssatz in diesem Jahr viermal gesenkt, während die Inflation im Jahresvergleich auf über 85% angestiegen ist, ein seit den 90er Jahren nicht mehr gesehener Höchststand. Zudem bleibt der durchschnittliche Zinssatz für kommerzielle Kredite unverändert niedrig, da Banken sanktioniert werden, wenn sie Kredite mit hohen Zinssätzen vergeben. Die extrem hohe Inflationsrate belastet die Kaufkraft und damit auch die Binnennachfrage.

Trotz des sehr starken Wachstums der Leistungsbilanzeinnahmen, das durch die anhaltend günstige Auslandsnachfrage sowie eine Erholung in der Tourismusbranche bedingt ist, nimmt das Leistungsbilanzdefizit aufgrund der hohen Energiepreise zu. Dieses anschwellende Defizit ist ein Zeichen der Verwundbarkeit und wird weiterhin zu großen Teilen von volatilen kurzfristigen Kapitalzuflüssen finanziert, obgleich die Türkei aufgrund ihrer geografischen Lage ein attraktiver Standort für ausländische Investoren ist.

Seit Jahren stellt diese hohe Abhängigkeit von kurzfristiger Außenfinanzierung eine der bedeutendsten Schwächen der Türkei dar. Bislang konnte das Land genügend ausländische Finanzmittel anziehen (vorwiegend Portfolioinvestitionen und kurzfristige externe Kredite), um sein Leistungsbilanzdefizit zu finanzieren. Die rapide Verschlechterung der globalen Finanzlage bei gleichzeitiger koordinierter Straffung der Geldpolitik könnte die türkische Wirtschaft jedoch hart treffen – zumindest dann, wenn der Zugang zu Außenfinanzierung zu schwierig wird oder es zu beschleunigten Kapitalabflüssen kommt. Auch negative Wahrnehmungen – wie Befürchtungen, dass westliche Sanktionen gegen türkische Organisationen oder Personen verhängt werden, sofern es Verdächtigungen gibt, dass diese Russland bei der Umgehung von Sanktionen helfen – könnten den Zugang der Türkei zu Fremdfinanzierung aus dem Westen behindern. Weiterhin sind die Währungsreserven niedrig und stehen regelmäßig unter Druck. Außerdem können sie die ausgesprochen hohe kurzfristige Auslandsverschuldung, die laut Angaben der Zentralbank im August bei 138 Mrd USD lag, nicht decken.

Teurere Importe in Lokalwährung

Das steigende Leistungsbilanzdefizit und Kapitalabflüsse belasten die Lira, die bereits seit Jahren stark unter Druck steht (und daher weiterhin zum Inflationsdruck beiträgt). Während die Abwertung der heimischen Währung die außenwirtschaftliche Wettbewerbsposition von Exporteuren theoretisch stärken sollte, ist in der Praxis nur eine begrenzte Wirkung zu beobachten, da Exporteure auf teurere Importe in Lokalwährung angewiesen sind. Außerdem sind die inländischen Produktionskosten hoch und könnten weiter zunehmen, da auch die Mindestlöhne im Vorfeld der Wahlen im Juni steigen dürften. Die starke Abwertung der Lira führt des Weiteren dazu, dass Unternehmen, die nicht abgesichert sind oder keine Einkünfte in Fremdwährung haben, in Lokalwährung gerechnet immer höhere Kosten aufbringen müssten, um auf Fremdwährung lautende Schulden zurückzuzahlen.

Die Unternehmensverschuldung ist ohnehin hoch – laut der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich lag sie im ersten Quartal 2022 bei 72,6% des BIP – und besteht vorwiegend gegenüber dem heimischen Bankensektor, der aufgrund seines negativen Netto-Auslandsvermögensstatus von etwa 10% des BIP (Juni 2022) Veränderungen im globalen Finanzumfeld besonders stark ausgesetzt ist.

Die Verschuldung des Zentralstaats bleibt mit ca. 40% des BIP in diesem Jahr weiterhin moderat. Die öffentliche Verschuldung ist jedoch dem Wechselkursrisiko ausgesetzt, da über 50% der Verschuldung des Zentralstaats auf Fremdwährung lauten. Hohe Kosten könnten zudem auf die Behörden zukommen durch Maßnahmen, die aufgrund des anhaltenden Drucks auf die Lira und zur Stützung der Währung eingeführt wurden, um Inhaber von auf Lira lautenden Einlagen im Falle einer Wertverminderung (unter bestimmten Bedingungen) zu schützen. Es ist außerdem schwierig, sich einen Gesamtüberblick über den Zustand der öffentlichen Finanzen jenseits der Zentralregierung zu verschaffen, etwa hinsichtlich der Folgen aller Bauprojekte und der staatlichen Garantie.

Geschäftsumfeldrisiko in höchster Risikokategorie

Trotz des robusten Wachstums des realen BIP wird das Geschäftsumfeldrisiko unverändert in die höchste Risikokategorie G/G eingeteilt. Grund hierfür sind die herausfordernden makroökonomischen Rahmenbedingungen, die sich aus dem schwierigen Kreditzugang für den Privatsektor, der drastischen Abwertung der türkischen Lira und der hohen Inflation ergeben.

Das kurzfristige politische Risiko, das die Liquidität eines Landes widerspiegelt, wird in Kategorie 5/7 eingestuft. Der Bewertungsausblick ist negativ, da die Türkei der anhaltenden Verschärfung des globalen Finanzumfelds in hohem Maße ausgesetzt ist, was auf ihre Abhängigkeit von kurzfristiger Außenfinanzierung, den niedrigen Bruttowährungsreserven und den großen Bestand an kurzfristigen Auslandsverbindlichkeiten zurückzuführen ist. Das mittel- bis langfristige politische Risiko, das die Zahlungsfähigkeit eines Landes widerspiegelt, steht ebenfalls unter Druck, was auf die schwache Liquidität und die unorthodoxe Geldpolitik zurückgeht. Gleichzeitig wird die Einstufung des mittel- bis langfristigen politischen Risikos (5/7) von den moderaten Bruttoauslandsschulden, Schuldendienstverpflichtungen und Schulden der Zentralregierung sowie der gut diversifizierten Wirtschaft gestützt.

Ausführliche Länderberichte finden Sie auf der Seite www.credendo.com

k.koch@credendo.com

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