Aller Wahrscheinlichkeit nach erhält Premierminister Modi nach den aktuellen Wahlen ein weiteres Mandat. Die günstigen Aussichten für das reale BIP-Wachstum werden allerdings von der Beschäftigungskrise und großen Ungleichheiten überschattet. Während die makroökonomischen Fundamentaldaten gut sind, bleiben die schwache öffentliche Finanzlage und die Anfälligkeit für den Klimawandel Risiken.

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Die Erfolgsgeschichte des 73-jährigen Narendra Modi dürfte in eine neue, fünf Jahre anhaltende Runde gehen. Damit wäre er nach Jawaharlal Nehru mit einer Amtszeit von 16,5 Jahren der am längsten amtierende Premierminister in der Geschichte des unabhängigen Staates Indien. Und tatsächlich sind der amtierende indische Regierungschef und seine Partei BJP bei den vom 19. April bis zum 1. Juni stattfindenden Parlamentswahlen erneut die klaren Favoriten. Sein Charisma, seine große Führungsstärke, der Hindu-Nationalismus und insb. der Aufstieg der globalen Position Indiens, aber auch die gute wirtschaftliche Entwicklung, großzügige Transferleistungen und die wirtschaftsfreundliche Regierungspolitik gehören zu den zahlreichen Gründen für Modis anhaltende Popularität.

Weitere Faktoren für seinen erwartbaren, erneuten Erfolg sind die gespaltene Opposition – trotz der spät gegründeten, aber durchaus bedeutenden Koalition INDIA (Indian National Developmental Inclusive Alliance) – und das Fehlen einer starken Führungspersönlichkeit (allen voran im historischen Indian National Congress), während die BJP über eine eingespielte politische Maschinerie verfügt. Außerdem sieht sich die Opposition mit rechtlichen Hürden konfrontiert, z.B. mit der kürzlichen Verhaftung von Arvind Kejriwal, Regierungschef von Delhi, Parteivorsitzender der AAP und einer von Modis wichtigsten Konkurrenten. Daher könnte das Gewicht der BJP im künftigen Parlament weiter zunehmen.

Erosion der Demokratie?

Eine weitere Amtszeit für Modi würde zwar politische Kontinuität mit den Schwerpunkten Hindu-Identität, Außenpolitik und Wirtschaft ermöglichen. Die Reduzierung politischer Freiheiten (etwa nach Einschätzung von Freedom House) und die Hindutva-Agenda (Hindutva steht für Hindu-Nationalismus) dürften aber die größten Kontroversen seiner bisherigen innenpolitischen Strategie sein (z.B. das kürzlich eingeführte Staatsbürgerschaftsgesetz Citizenship Amendment Act). Die geringeren Freiheitsgrade haben zur Verschärfung der wahrgenommenen demokratischen Erosion geführt (laut dem neuesten DemokratieIndex des Economist, der 2014 noch ein hohes Niveau feststellte) und Spannungen zwischen Bevölkerungsgruppen sowie religiöse Gewalt, insb. gegen die große muslimische Minderheit, intensiviert. Weitere Schritte in diese Richtung wären somit eine wachsende Quelle möglicher innerer Instabilität.

Modi wird die während seiner zweiten Amtszeit begonnene aktive und erfolgreiche Außenpolitik voraussichtlich fortsetzen. Auf der globalen Bühne steigert sein pragmatischer und strategischer Ansatz in einer sich verändernden geopolitischen Ordnung Indiens internationales Profil unter westlichen Staaten sowie Schwellen- und Entwicklungsländern gleichermaßen.

Führungsnation der Länder des globalen Südens

Auf der einen Seite möchte Modi als Gegengewicht zu China die freundschaftlichen Beziehungen zum Westen aufrechterhalten, eine aktive Rolle im Indopazifik spielen und bilaterale Handelsverträge aushandeln. Auf der anderen Seite wird er sicherstellen, dass Indien – und nicht etwa China – als Führungsnation der Länder des globalen Südens wahrgenommen wird.

Dazu vertritt Modi durch die Teilnahme an nicht westlichen Organisationen (wie der BRICS-Gruppe) u.a. deren Anliegen in Verhandlungen um die Klimafinanzierung. Er weitet zudem den nicht auf US-Dollar basierenden Handel aus, auch mit sanktionierten Ländern wie Russland – solange dies indischen Interessen dient und nicht gegen US-/EU-Sanktionen verstößt. Angesichts der wachsenden regionalen Präsenz Chinas wird Modi gleichzeitig die Stärkung des indischen Einflussbereichs auf dem Subkontinent zu einer außenpolitischen Priorität erklären.

Schwerpunkt auf Infrastruktur

Die Wirtschaft dürfte ein weiterer klarer Erfolg seiner Regierungszeit bleiben. So lag während Modis ersten beiden Amtszeiten ein wichtiger Schwerpunkt auf der umfassenden Entwicklung der Infrastruktur. In den vergangenen Jahren hat sich seine Regierung ehrgeizige Ziele zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit gesetzt und in dem Zuge Industriebereiche wie Rüstung, Automotive, Elektromobilität und Halbleiter gefördert, während auch die Energiewende (weg von Kohle) und die fortschreitende Digitalisierung in den kommenden Jahren Investitionsprioritäten der Regierung bleiben dürften. Auch auf die Schaffung von Arbeitsplätzen wird die Regierung ihr Augenmerk legen, wobei sie in diesem Bereich bisher enttäuschende Ergebnisse vorzuweisen hat.

Während sich Indien zum bevölkerungsreichsten Land der Welt entwickelt hat, stellt die demografische Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ein Problem dar. Es besteht ein großer Mangel an verfügbaren und qualitativ hochwertigen Arbeitsplätzen, und die Erwerbsbeteiligung von Frauen ist nach wie vor gering. Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt bei hohen 8 bis 9%. Zudem ist der Großteil der Gesamtbeschäftigung im Land weiterhin informell. Die größte Sorge sind die Jugendlichen, von denen schätzungsweise über 40% arbeitslos sein könnten.

Indien ein Land mit weitverbreiteter Armut und erheblicher Ungleichheit

Neben der Beschäftigungskrise gibt es ein weiteres großes Problem: Ungeachtet eines gemeldeten Rückgangs der extremen Armut auf 12% der Bevölkerung (laut Weltbank) bleibt Indien ein Land mit weitverbreiteter Armut und erheblicher Ungleichheit. Die kräftige Wirtschaftsleistung dieses Jahrhunderts kam vorwiegend der Mittelschicht zugute, wobei der obere Teil unverhältnismäßig stark von der Wohlstandsmehrung profitiert. Tatsächlich hat Indien nach wie vor ein Pro-Kopf-BIP (2.390 USD), das weit unter dem der anderen BRICS-Gründungsmitglieder und großer asiatischer Staaten (ausgenommen Pakistan) zurückbleibt. Die Verbesserung dieses Trends spielt für das politische Erbe Modis somit eine wichtige Rolle.

Im Wirtschaftsjahr 2024 (April 2024 bis März 2025) dürfte das BIP-Wachstum 6,8% erreichen. Die jüngst veröffentlichte Prognose des Internationalen Währungsfonds sieht mittelfristig eine etwas niedrigere, aber immer noch starke Rate von 6,5% vor (Grafik 1 basiert auf Daten des IWF-Weltwirtschaftsausblicks von Oktober 2023).

Grafik 1: Jährliche reale BIP-Wachstumsraten von China und Indien (in %; Schätzungen für 2024 und 2025). © IMF, Credendo

Die gute Wirtschaftsdynamik beruht auf einer robusten Binnennachfrage, die von starken Wirtschaftsaussichten und einem sukzessiven Rückgang des Inflationsdrucks gefördert wird (+5,1% im Februar und somit innerhalb des seit September 2023 geltenden Inflationskorridors der Reserve Bank of India). Aufgrund der anhaltend hohen Preisinflation bei Nahrungsmitteln beließ die Reserve Bank of India den Leitzins dennoch bei 6,5%.

Darüber hinaus tragen beträchtliche Infrastrukturinvestitionen (insb. in Transport und Digitalisierung), eine dynamische Fertigungsindustrie – vor dem Hintergrund der angestrebten wirtschaftlichen Unabhängigkeit – sowie die verbesserte Stabilität des Bankensektors zu einer günstigen Wirtschaftslage bei, die auch vom aktuellen Börsenboom unterstrichen wird.

Indiens Zahlungsbilanz mit Licht und Schatten

Auch Indiens Zahlungsbilanz hat sich positiv entwickelt. Wie bei den Nachbarstaaten in der Region wirkte sich der Krieg in der Ukraine allerdings deutlich negativ auf die Handelsbilanz aus, was auf die stark zugenommenen Einfuhrkosten für Energie und Nahrungsmittel zurückzuführen ist. Auch die Tatsache, dass der Import von billigem Öl aus Russland, das seine ursprünglich geringe Liefermenge vervielfacht und sich zum größten Öllieferanten Indiens entwickelt hat, drastisch gestiegen ist, kann diesen Effekt nicht ausgleichen. Tatsächlich bleibt die indische Wirtschaft in hohem Maße von Brennstoffeinfuhren abhängig (über 35% des Gesamtimports) und somit anfällig für hohe Preise.

Dennoch erfreut sich Indien seit 2023 eines Anstiegs an ausländischen Direktinvestitionen und Portfoliozuflüssen, und die Volumina dürften angesichts der günstigen langfristigen Perspektiven weiterhin einen Aufwärtstrend auf hohem Niveau verzeichnen. So gilt Indien in puncto Direktinvestitionen unter multinationalen Konzernen, die sich im Zuge ihrer De-Risking-Strategien von China lösen möchten, als attraktives und sichereres Ziel, insb. vor dem Hintergrund der starken US-chinesischen Rivalität und der verschlechterten Beziehungen zwischen Europa und China. Weitere nachhaltig steigende Direktinvestitionen könnten allerdings eine Zunahme von Freihandelsabkommen erfordern, da Indien unter der Nichtbeteiligung an regionalen Handelsabkommen und der begrenzten Anzahl bilateraler Verträge leidet.

Grafik 2: Seit Ende 2021 hat der Wert der Indischen Rupie gegenüber dem US-Dollar massiv abgenommen. © IMF, Credendo

Üppige Investitionszuflüsse ermöglichen eine unproblematische Finanzierung des Leistungsbilanzdefizits, das seit 2022 bei rund 2% des BIP liegt und in den kommenden Jahren auf diesem Niveau verbleiben dürfte. Diese Investitionen unterstützen die Indische Rupie, die sich seit November 2022 gegenüber dem US-Dollar halbwegs stabilisiert hat (allerdings auf einem historisch niedrigen Wert, vgl. Grafik 2).

Schwache öffentliche Finanzlage

Die öffentlichen Finanzen sind eine chronische Schwäche von Indiens makroökonomischen Fundamentaldaten. Die Covid-19-Pandemie sorgte für eine weitere Verschlechterung, nachdem ein gewaltiges staatliches Konjunkturprogramm (auf 10% des BIP geschätzt) die Staatsverschuldung im Wirtschaftsjahr 2020 auf 88% des BIP und das Haushaltsdefizit in den zweistelligen Bereich anschwellen ließ. Seitdem hat sich die Situation leicht verbessert und die Staatsverschuldung dürfte im WJ 2023 bei ungefähr 82% des BIP liegen.

Dennoch werden für die kommenden Jahre umfangreiche Haushaltsdefizite von 7 bis 8% erwartet, was bedeutet, dass sich der Rückgang der Staatsverschuldung – mittelfristig auf 80% – nur langsam vollziehen und Indien angesichts hoher Zins­aufwendungen von nahezu 30% der gesamten Staatseinnahmen (dem höchsten Niveau seit dem WJ 2005) in einer empfindlichen finanzpolitischen Lage bleiben wird.

Daher wird die Regierung die Haushaltskonsolidierung weiter vorantreiben müssen, um eine Verschlechterung der Lage zu verhindern und den „Investment Grade“-Status bei Ratingagenturen aufrechtzuerhalten. Dies umfasst Ausgabenbeschränkungen (z.B. bei Subventionen für Nahrungs- und Düngemittel) und ggf. Privatisierungen, allen voran im Banken- und Versicherungswesen. Da die Privatisierungspläne in den vergangenen Jahren allerdings weit hinter den Regierungszielen zurückgeblieben sind, erscheinen ehrgeizige Privatisierungsvorhaben eher unwahrscheinlich.

Große sozioökonomische Gefährdung durch den Klimawandel

Und es gibt noch ein weiteres Problem: 2023 hat erneut die Anfälligkeit Indiens für die Folgen des Klimawandels deutlich gemacht, insb. in Form von Extremwetterereignissen wie Hitzewellen und Dürren, gefolgt von unberechenbareren und stärkeren Monsun-Regenfällen.

Diese Naturkatastrophen werden sich mit dem Voranschreiten des Klimawandels weiter verschärfen und damit ein besonders hohes Risiko für den in der Landwirtschaft tätigen Teil der Erwerbsbevölkerung (45%) bilden und das langfristige wirtschaftliche Potenzial des Landes trüben. In der Folge besteht die Gefahr, dass Indien sich mit einem Ernterückgang bei seinen Grundnahrungsmitteln konfrontiert sieht. Im Juli 2023 verhängten die indischen Behörden angesichts schlechterer Reisernten eine Mischung aus Reisexportverboten und -beschränkungen, was die globale Versorgung unter Druck setzte und zu deutlichen Preisanstiegen führte. Handelsbeschränkungen aus Gründen der Ernährungssicherheit dürften künftig zunehmen, wenn die Folgen des Klimawandels spürbarer werden.

Stabile bis positive Perspektiven für die Länderrisikobewertungen

Das Geschäftsumfeldrisiko hat sich im Laufe der Zeit schrittweise verbessert und den von der Pandemie verursachten Höchstwert (G/G Ende 2020) hinter sich gelassen. Vor dem Hintergrund günstiger wirtschaftlicher Rahmenbedingungen wurde das Risiko kürzlich auf C/G hochgestuft. Beim politischen Risiko sind sowohl die kurzfristigen (2/7) als auch die mittelfristigen Aussichten (3/7) stabil, jeweils dank der guten Liquidität und der niedrigen Auslandsverschuldung.

Ausführliche Länderberichte finden Sie auf der Seite www.credendo.com

j.schnorrenberger@credendo.com

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