Coface-Volkswirtin Patricia Krause spricht im Interview mit dem „ExportManager“ über Lateinamerika als wichtigen Lieferanten von Rohstoffen für die EU, den stark gestiegenen Handel mit China und das Land, das auf dem südamerikanischen Kontinent am meisten von der Umstellung der Lieferketten profitieren könnte.
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Frau Krause, die Europäische Union würde gerne wieder mehr Einfluss in Lateinamerika gewinnen. Spanien, das in der zweiten Hälfte des kommenden Jahres den Vorsitz im EU-Rat übernimmt, könnte hier eine entscheidende Rolle spielen. Was sind die Hintergründe für dieses Vorhaben der EU?
Patricia Krause: Eigentlich war die Zusammenarbeit zwischen der EU und den lateinamerikanischen Staaten in der Vergangenheit tatsächlich enger. Zur Erinnerung: 2019 wurde nach 20-jähriger Verhandlungsdauer ein Handelsabkommen zwischen der EU und der Binnenmarkt-Organisation Mercosur geschlossen, der Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay angehören. Umweltbedenken in vielen europäischen Staaten haben das Abkommen zum Stillstand gebracht, noch bevor es von den Gesetzgebern der EU-Mitgliedstaaten genehmigt wurde. Die derzeitige schwierige globale Lage, einschließlich der wirtschaftlichen Auswirkungen der russischen Invasion in der Ukraine, könnte nun wieder eine Annäherung zwischen der EU und Lateinamerika begünstigen. Denn die Region ist ein wichtiger Produzent von Rohstoffen, einschließlich Energie und Lebensmittel. Dieser Umstand könnte auch die Gespräche mit dem Mercosur-Block wiederbeleben.
Die europäischen Länder, insb. Deutschland, haben in den letzten Jahren Marktanteile in Südamerika verloren, China und andere Staaten haben gewonnen. Woran liegt das?
In den vergangenen Jahren hat sich tatsächlich die Position insb. Chinas verändert. China ist deutlich gewachsen, während die EU praktisch stagnierte. Daher hat der Handel zwischen Lateinamerika und der Volksrepublik stark zugelegt, wobei der Zuwachs Chinas auf Kosten anderer Märkte stattgefunden hat. Die noch immer hohen Wachstumszahlen der chinesischen Wirtschaft generieren einen starken Nachfrageanstieg nach Rohstoffen aus Lateinamerika. Auf der Importseite werden wiederum mittlerweile mehr chinesische Industriegüter wie Elektronik, Maschinen und Automobilzubehör nachgefragt.
Auf der anderen Seite haben viele europäische Hersteller nach wie vor große produzierende Niederlassungen auf dem Kontinent, v.a. in Brasilien, etwa in São Paulo. Wie ist die Entwicklung hier?
Natürlich spielt Europa noch immer eine wichtige Rolle, auch weil in Lateinamerika und der Karibik einige Überseeterritorien Europas liegen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass laut der aktuellen konsolidierten Daten für 2020 die Niederlande mit einem Anteil von 15% das Land mit dem größten Gesamtbestand an ausländischen Direktinvestitionen in Lateinamerika sind. Den zweiten Platz belegen die Vereinigten Staaten mit 12% und Spanien mit 9%. Dabei haben die Niederlande ihre Position ausgebaut. Im Vergleich zum Jahr 2016 lag der Anstieg bei 133%, während die USA ihr Engagement um 4% verringert haben und Spanien es wiederum um 4% erhöht hat. Im Falle Deutschlands beliefen sich die Investitionsbestände 2020 auf 42 Mrd USD gegenüber 10 Mrd USD im Jahr 2016, womit es 2020 der fünftgrößte Investor in der Region war und 2% der Direktinvestitionsbestände verantwortete.
Die ausländischen Direktinvestitionen in dieser Region sind also nach wie vor auf einem hohen Niveau. Welche Regionen und Branchen sind denn dabei am begehrtesten?
Nach den Daten der Welthandels- und Entwicklungskonferenz UNCTAD für das Jahr 2021 waren die beiden größten Volkswirtschaften Lateinamerikas, Brasilien und Mexiko, die Hauptempfänger von ausländischen Direktinvestitionen in der Region. Insgesamt erhielt Lateinamerika 134 Mrd USD an ausländischen Direkt-investitionen, von denen 37% nach Brasilien und 24% nach Mexiko flossen. Dies ist natürlich auch der starken Wirtschaftskraft beider Länder geschuldet. Was die Branchen betrifft, so profitierten in Brasilien v.a. die Agrarindustrie, die Automobilbranche sowie die Bereiche Elektronik, Informationstechnologie und Finanzdienstleistungen. Im Falle Mexikos verzeichnete die IT-Branche den größten Zuwachs.
Was sind die größten Vor- und Nachteile der Volkswirtschaften in Lateinamerika in diesen volatilen Zeiten?
Als wichtige Rohstoffproduktionsregion profitieren viele Länder von den weiterhin hohen Rohstoffpreisen. Dies begünstigt die in diesen Branchen tätigen Unternehmen, die Exporte und die Staatseinnahmen. Allerdings stehen die Länder auch vor der Herausforderung eines starken Inflationsanstiegs, der die Kaufkraft der Bevölkerung untergräbt. Das ist ein besonders heikles Thema in einer Region mit Ländern mit relativ niedrigem Pro-Kopf-Einkommen, wo Lebensmittel für Familien einen großen Teil ihres Konsumwarenkorbes abbilden. Ein weiterer Nebeneffekt der derzeitigen Situation ist, dass die Zentralbanken ihre Leitzinsen besonders stark anheben müssen, was sich negativ auf die Investitionstätigkeit auswirkt.
Welche Länder in Lateinamerika könnten am meisten von den Veränderungen in den Lieferketten profitieren?
Die globalen Lieferketten waren ja in den vergangenen zweieinhalb Jahren immer wieder unterbrochen. Wenn man also stattdessen eher lokal in der Region produzieren möchte, dann würde von dieser Entwicklung Mexiko am meisten profitieren. Aufgrund seiner Nähe zu den Vereinigten Staaten, des Handelsabkommens USMCA mit den USA und Kanada, früher NAFTA, und seiner breit gefächerten Fertigungsindustrie hat es sowohl die Kapazitäten als auch die Infrastruktur, um als Produzent für Lateinamerika aufzutreten. Auch Brasilien könnte bei der Versorgung des lateinamerikanischen Marktes an Bedeutung gewinnen, da es den am stärksten diversifizierten Industriepark unter den Ländern im südlichen Teil des Kontinents hat.
Chile ist eines der erfolgreichsten Länder in der Region. Vor Kurzem haben die Bürger mit großer Mehrheit eine neue Verfassung abgelehnt. Wie konnte es dazu kommen?
Bei einer hohen Wahlbeteiligung von 86% lehnten in dem Anfang September abgehaltenen Referendum 62% der Wähler den neuen Verfassungsentwurf ab. Dabei hatten im Oktober 2020, als Reaktion auf die weitverbreiteten Proteste gegen soziale Ungerechtigkeit, noch fast 80% der Chilenen für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung gestimmt. Die Wahlen im Mai 2021, bei denen die 155 Mitglieder des Verfassungskonvents gewählt wurden, verzeichneten jedoch aufgrund der Pandemie eine Wahlbeteiligung von nur 43%. Die Zusammensetzung des Konvents entsprach daher nicht unbedingt den Präferenzen der Mehrheit der Bevölkerung, denn mehr als zwei Drittel der Gewählten gehörten nicht den etablierten politischen Parteien an. Insgesamt war der progressive Entwurf nicht konsensfähig, da er eine weitgehende Abkehr vom derzeitigen Wirtschaftsmodell des Landes bedeutet hätte. Da die Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor eine neue Verfassung wünscht, ist das Ergebnis des Referendums also noch nicht das Ende der Fahnenstange.
Wie geht es in Chile jetzt weiter?
Man berät derzeit über das weitere Vorgehen. Wahrscheinlich ist, dass an einem neuen Verfassungsentwurf gearbeitet wird, der moderater ausfällt und damit einen breiteren Zuspruch in der Bevölkerung hat. Bis dieser Kompromissentwurf steht, hat sich das politische Risiko jedoch erhöht. Schließlich hat die ganze Bewegung zur Entwicklung einer neuen Verfassung damit begonnen, dass die Preise für U-Bahn-Tickets in Santiago de Chile angehoben wurden. Dies unterstreicht die Fragilität der politischen „Ruhephase“ in Chile.
Zuletzt kam es in Haiti und Panama zu schweren Unruhen und Protesten auf den Straßen. Was sind die Gründe dafür?
Haiti befindet sich seit geraumer Zeit in einer sehr heiklen sozialen und wirtschaftlichen Lage, die von zivilen Unruhen und chronischer Bandengewalt geprägt ist. Letztere hat seit der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Juli 2021 sogar noch zugenommen. Die jüngsten Proteste im ganzen Land brachen nach dem 11. September aus, als Premierminister Ariel Henry eine Erhöhung der Kraftstoffpreise ankündigte. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als das Land mit einer hohen Inflation von über 30% gegenüber dem Vorjahr konfrontiert war. Die Proteste haben zu Gewalt und Plünderungen von Lagerhäusern des Welternährungsprogramms WFP geführt. Nach Angaben eines WFP-Mitarbeiters ging dabei im Laufe einer Woche ein Drittel der Nahrungsmittelvorräte verloren. Außerdem blockieren Banden das wichtigste Treibstoffterminal des Landes und drohen damit, die Schließung von Krankenhäusern zu erzwingen, da diese auf Dieselgeneratoren zur Stromversorgung angewiesen sind.
Wie ist die Lage in Panama?
In Panama zwangen Demonstranten, die im Juli dieses Jahres Autobahnen und Häfen blockierten, die Regierung, die Preise für 72 Produkte des täglichen Bedarfs einzufrieren. Durch Straßenblockaden forderten die Demonstranten die Regierung auf, Maßnahmen zu ergreifen, um den raschen Anstieg der Lebenshaltungskosten einzudämmen. Insgesamt zeigen die genannten Proteste, wie stark sich die hohe Inflation, v.a. bei Energie und Lebensmitteln, auf das Einkommen der Bevölkerung auswirkt, gerade in einer Region mit einem niedrigen BIP pro Kopf.
Wie steht es um die drohenden neuen Kapitalverkehrskontrollen in Argentinien?
Argentinien verfügt nur über sehr begrenzte internationale Reserven und hat sich bemüht, diese zu erhöhen, wie mit dem Internationalen Währungsfonds im Rahmen der erweiterten Fondsfazilität vereinbart. Obwohl die auch global hohen Agrarpreise die Exporte des Landes in Umfang und Gesamtwert begünstigen, steigen gleichzeitig auch die Importe weiterhin auf breiter Basis. Das liegt weniger am Volumen der Einfuhren, sondern an den hohen Energiepreisen, die den Gesamtwert der Importe erhöhen. Dies führt zu einem Handelsbilanzüberschuss, der geringer ausfällt als erhofft. Darüber hinaus hat sich das Defizit in der Dienstleistungsbilanz aufgrund steigender Logistikkosten und Nettoabflüsse aus dem Tourismus ausgeweitet. Infolgedessen hat die Zentralbank die Regeln für den Zugang zum Devisenmarkt für Importeure schrittweise verschärft. Dies ist eine Maßnahme, die der Industrie tendenziell schadet und zu Produktknappheit und Preissteigerungen führt.
Die Fragen stellte Jörg Rieger.