Jedes Jahr entgehen den Mitgliedstaaten der EU Milliardenbeträge durch Mehrwertsteuerbetrug. Jedes Land hat sein eigenes Mehrwertsteuersystem und unterschiedliche Mehrwertsteuersätze. Die Mehrwertsteuererstattung im innergemeinschaftlichen Handel hat kriminelle Geschäftsmodelle entstehen lassen, die den Einzelstaaten hohe Steuerausfälle bescheren. Die Kommission will bis 2022 die Mehrwertsteuerregeln reformieren und so die Steuerhinterziehung reduzieren.
25 Jahre nach der Schaffung des EU-Binnenmarkts sehen sich Unternehmen im grenzüberschreitenden Handel noch immer 28 unterschiedlichen Mehrwertsteuersystemen und zum Teil unübersichtlichen Vorschriften für die Mehrwertsteuerbehandlung gegenüber. Kriminelle nutzen diese Situation und Schlupflöcher in der Gesetzgebung zu ihren Gunsten aus. Vor allem den sogenannten Karussellbetrügern, die Reihengeschäfte und die Mehrwertsteuerbefreiung im grenzüberschreitenden Handel ausnutzen, soll mit der Mehrwertsteuerreform das Handwerk gelegt werden.
Die EU-Kommission schätzt, dass jedes Jahr mehr als 150 Mrd EUR an Mehrwertsteuern (MwSt.) durch Betrug verlorengehen. Allein der grenzüberschreitende Betrug verursacht jährlich MwSt.-Einbußen von rund 50 Mrd EUR (d.h. 100 EUR je EU-Bürger).
Die bei Gründung des Binnenmarkts angestrebte Harmonisierung der MwSt.-Sätze innerhalb der EU hat sich als Illusion entpuppt. Im Oktober 2017 hat die Kommission nun eine weitreichende Reform des MwSt.-Systems vorgeschlagen, die bis 2022 umgesetzt werden soll. Dafür bedarf es allerdings des einstimmigen Einverständnisses aller Mitgliedstaaten.
Drei-Säulen-Plan
Neu soll innerhalb der EU bei Transaktionen zwischen zwei Firmen auch im grenzüberschreitenden Handel eine MwSt. erhoben werden. Dies gilt zunächst nur für den Warenverkehr. Eine Ausdehnung auf Dienstleistungen könnte folgen.
Nach den derzeitigen EU-Regeln sind grenzüberschreitende B2B-Lieferungen zwischen Unternehmen innerhalb der EU von der MwSt. befreit. Bei inländischen Transaktionen hingegen muss auf jeder Stufe die MwSt. berechnet werden. Als Anreiz, die Lieferungen auch wirklich zu deklarieren, kann ein Vorsteuerabzug geltend gemacht werden.
Zweitens soll bei grenzüberschreitenden Lieferungen der im Land des Käufers geltende Steuersatz angewandt werden. Die Steuereinnahmen stehen diesem Land zu (Bestimmungslandprinzip). Die Kommission hat lange auf die Umstellung auf das Bestimmungslandprinzip hingearbeitet. Bei elektronischen Dienstleistungen gilt der Grundsatz bereits.
Drittens ist ein One-Stop-System geplant. Ein Verkäufer im EU-Land A wendet dann bei Verkäufen in andere Mitgliedstaaten die jeweiligen nationalen MwSt.-Sätze an. Die MwSt. kann er aber der Steuerbehörde im eigenen Land abliefern. Diese verteilt die Einnahmen anschließend an die verschiedenen Bestimmungsländer.
Unternehmer sollen zukünftig in einem zentralen Onlineportal in ihrer eigenen Sprache und nach den gleichen Regeln und administrativen Mustern wie in ihrem Heimatland Erklärungen abgeben und Zahlungen durchführen können. Ähnliches hat die EU bereits für den Onlinehandel (B2C) eingeführt. Die Regelung ist ab 1. Januar 2021 obligatorisch.
Kein Ende des Flickenteppichs
Um EU-Mitgliedern, die anderen Regierungen und ihren Steuerbehörden nicht recht trauen, die Reform schmackhaft zu machen, sieht die Kommission vorübergehende Ausnahmeregelungen vor. Die Mitgliedstaaten können bestimmten Unternehmen, die sie für vertrauenswürdig und zahlungsfähig halten, den Status des „zertifizierten Steuerpflichtigen“ („Certified Taxable Person“) erteilen. Dieser ähnelt dem Status des Zugelassenen Wirtschaftsbeteiligten (AEO) im Zollrecht. Für eine erfolgreiche Zertifizierung müssten bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Der Status des zertifizierten Steuerpflichtigen müsste außerdem von allen EU-Mitgliedstaaten gegenseitig anerkannt werden. Grenzüberschreitende Verkäufe an „zertifizierte Steuerpflichtige“ könnten dann MwSt.-frei abgewickelt werden.
Vier Sofortmaßnahmen
Zudem hat die Kommission vier „schnelle Lösungen“ vorgeschlagen, die ab 2019 angewendet werden und das derzeitige MwSt.-System kurzfristig bis zur Einführung der endgültigen Regelung verbessern sollen.
Zunächst soll es Vereinfachungen von Mehrwertsteuervorschriften für Unternehmen geben, die Güter von einem in einen anderen Mitgliedstaat transportieren, um diese dort zu lagern, bevor sie an einen vorab bekannten Kunden geliefert werden („Abruf aus einem Konsignationslager“).
Es sollen auch Reihengeschäfte vereinfacht werden, bei denen die Lieferung festgestellt wird, mit der der innergemeinschaftliche Transport von Gütern verknüpft wird.
Als Drittes sollen Vereinfachungen des Nachweises für die Beförderung von Gütern zwischen zwei Mitgliedstaaten, der für die Beantragung der Mehrwertsteuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen erforderlich ist, beschlossen werden. Alle drei Vereinfachungen soll es aber nur für „zertifizierte Steuerpflichtige“ geben.
Schließlich soll eine Mehrwertsteuerbefreiung im Rahmen der gegenwärtigen Vorschriften möglich sein, wenn zusätzlich zum Nachweis für die Beförderung die im elektronischen MwSt.-Informationsaustauschsystem (MIAS) verwendete MwSt.-Nummer der Handelspartner bekannt ist.
Doch damit nicht genug! Die Kommission will den Mitgliedstaaten auch (noch) mehr Freiraum bei der Festsetzung der MwSt.-Sätze gewähren. Zusätzlich zu den schon bestehenden ermäßigten Sätzen [mehr als 250 (!) in der EU] soll jedes Land noch eine reduzierte Rate zwischen 0 und 5% einführen dürfen.
Finanzielle Vorteile
Die Neuregelung des MwSt.-Systems soll Regierungen und Unternehmen gleichermaßen Verbesserungen sowie den Staaten höhere Einnahmen bringen. Die Kommission rechnet mit einer Reduzierung des MwSt.-Betrugs um 80%.
Da der administrative Aufwand für die MwSt.-Abrechnung bei grenzüberschreitenden Lieferungen derzeit deutlich höher ist als bei inländischen, würde das neue System die Unternehmen finanziell entlasten. Die Unternehmen müssten künftig keine Liste von grenzüberschreitenden Transaktionen („zusammenfassende Meldung“) für ihre Finanzbehörde mehr erstellen.
Im grenzüberschreitenden B2C-Geschäft innerhalb der EU müssten die Firmen sich nicht mehr im Absatzmarkt registrieren und die MwSt. zum dort geltenden Satz erheben, sofern der jährliche Gesamtumsatz in diesem Land die dort geltende Obergrenze (z.B. 35.000 EUR oder 100.000 EUR) übersteigt.
Mehr Sicherheit durch Digitalisierung
Zahlreiche Softwarehäuser bieten ausgefeilte Lösungen für eine automatisierte Zoll- und MwSt.-Abwicklung an. Diese können über Schnittstellen in ERP-Systeme integriert werden. Sie verfügen außerdem über Zugriff auf eine Datenbank, die alle Zoll- und MwSt.-Sätze beinhaltet. Ggfs. sollte man via MIAS-Suchmaschine der Europäischen Kommission auch MwSt.-Registrierungsdaten aus den Datenbanken der EU-Länder abfragen können.
Die Vorteile liegen auf der Hand. Mit einer solchen Software wenden Unternehmen die MwSt. intra-EU und grenzüberschreitend schnell, sicher und fehlerfrei an. Sie erkennen Optimierungspotentiale und können sofort und nachhaltig auf Probleme reagieren.
Fazit
Die Bearbeitung der MwSt. verursacht vielen Firmen Kopfzerbrechen. Es gibt zwar EU-weit geltende allgemeine Vorschriften, doch keine einheitliche Handhabung und keine einheitlichen Steuersätze. Die Reformvorschläge der EU-Kommission zur Vereinfachung des Systems sind überfällig. Allerdings könnten sie am mangelnden Vertrauen zwischen den Ländern scheitern. Wird ein finanziell klammer Staat wie Italien oder Griechenland die für andere Staaten eingezogenen MwSt. in einer vernünftigen Zeitspanne an diese überweisen? Zudem ist die Einführung des „zertifizierten Steuerpflichtigen“ umstritten. Die Umsetzung der Reform bis 2022 ist auf jeden Fall ambitiös.
Um beim Wildwuchs der MwSt.-Sätze nicht den Überblick zu verlieren, empfiehlt sich für global tätige Unternehmen mit Firmen in verschiedenen EU-Ländern auf jeden Fall eine spezielle Softwarelösung, die ins zentrale Buchhaltungssystem integriert werden kann.