Die Doha-Runde zur Liberalisierung des Welthandels ist seit längerer Zeit ins Stocken geraten. Viele Staaten suchen deswegen nach Alternativen. Sie schließen vermehrt bi- und multilaterale Freihandelsabkommen ab. Deren Inhalte zu kennen ermöglicht es exportorientierten Unternehmen, von Zoll- und Handelsvorteilen Gebrauch zu machen. Die Fortsetzung der Doha-Welthandelsrunde könnte indes eine Art von notwendiger „Flurbereinigung“ 1) für den Welthandel bedeuten.
Von Axel Krause, Rechtsanwalt und Diplom-Finanzwirt (Zoll), Graf von Westphalen
Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung „Wachstum, Bildung, Zusammenhalt“ vom 09.10.2009 für die 17. Legislaturperiode steht: „Der Königsweg für die weitere Liberalisierung des Handels mit Waren und Dienstleistungen liegt im multilateralen Ansatz der Welthandelsorganisation (WTO). Ein zügiger und ehrgeiziger Abschluss der Doha-Welthandelsrunde hat absoluten Vorrang (…). Ergänzend hierzu setzen wir uns für bilaterale Freihandelsabkommen mit den dynamischen Ländern und Regionen ein.“
Es gilt demnach ein erklärter Vorrang für weitere Doha-Runden und multilaterale Abkommen. Aber die Wirklichkeit entwickelt sich zurzeit anders, nämlich zu einem faktischen Vorrang bilateraler und von ihrem rechtlichen Inhalt her immer umfassender werdender Abkommen zwischen Staaten und Staatengemeinschaften. Die in Qatar (Doha) 2001 gestartete Welthandelsrunde der Welthandelsorganisation (WTO) ist bis heute ohne Abschlusserfolg. Der Grundkonflikt der Doha-Welthandelsrunde ist, dass die USA einen deutlich verbesserten Marktzugang in Brasilien, China und Indien im Agrar- und Industriegüterbereich verlangen und die Schwellenländer ihre Bereitschaft zu solchen Zugeständnissen wiederum von substantiellen Gegenleistungen der USA abhängig machen.
Von diesen schon seit Jahren festgefahrenen Doha-Verhandlungen gehen somit keine neuen Wachstumsimpulse für die Weltwirtschaft aus. Nach Angaben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie bleiben so weltweit zusätzliche Handelsvolumina von jährlich mindestens 150 Mrd EUR ungenutzt liegen.
Die EU hat seit ihrem Bestehen schon zahlreiche Freihandelsabkommen verhandelt und erfolgreich zum Abschluss bringen können, zuletzt z.B. mit Peru, Südkorea, Chile, Mexiko und Südafrika.
Bereits verhandelt, aber noch nicht umgesetzt sind die Freihandelsabkommen mit Singapur, Kolumbien, bestimmten zentralamerikanischen Staaten, der Ukraine und verschiedenen Staaten Afrikas sowie einigen Karibik- und Pazifik-anrainern (AKP-Staaten). Auch sind Freihandelsabkommen ein Kernelement diverser Assoziierungs-, Kooperations- und Zollunionsabkommen, die die EU mit anderen Staaten, vor allem in Europa, im Mittelmeerraum und im Nahen Osten, abgeschlossen hat.
Verhandlungen zu Freihandelsabkommen der EU insbesondere mit Kanada (seit 2009), Indien (seit 2007), Malaysia, Vietnam und dem Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay, Venezuela) laufen noch.
Derzeit beginnen neue Verhandlungen der EU für Freihandelsabkommen mit Japan und den USA. Für das Abkommen mit Japan hat die EU-Kommission dem Rat am 18.06.2013 einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet. Mit den USA beginnen am 08.07.2013 in Washington, D.C., die Verhandlungen zu einem Transatlantischen Handels- und Investitionsabkommen (Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP) aufgrund des EU-Ratsbeschlusses vom 14.06.2013.
Nach Aussagen der EU-Kommission sollen schon in den nächsten zwei Jahren 90% der weltweiten Nachfrage außerhalb der EU generiert werden. Dies ist der Grund dafür, dass es eine Schlüsselaufgabe der EU ist, mehr Marktmöglichkeiten weltweit für die europäische Wirtschaft durch den Abschluss von Freihandelsabkommen mit Schlüsselländern zu erschließen.
Nach den Worten von EU-Kommissionspräsident Barroso sind die bilateralen Handelsabkommen der EU ein „Sprungbrett für einen umfassenden multilateralen Welthandel“. „Würden alle laufenden Gespräche über Freihandelsabkommen abgeschlossen“, so der Kommissionspräsident, „dürfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der EU um 2,2% steigen, und es könnten schätzungsweise 2,2 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen“.
Da die geplanten Freihandelsabkommen mit Japan und den USA den größten Anteil an den obengenannten Zuwächsen ausmachen (allein das Japan-Abkommen soll das EU-BIP um 0,6% erhöhen und 420.000 neue Arbeitsplätze in der EU schaffen), könnte das „Sprungbrett“ auch zu einem Sprung ins kalte Wasser führen, wenn nämlich die Verhandlungen nicht die gewünschten Ergebnisse erzielen, die gewünschten Effekte ausbleiben oder gar ganz andere – nicht beabsichtigte – Effekte, z.B. in Bezug auf nichtinvolvierte Länder und Wirtschaftsräume wie China, eintreten.
Anders als bei den eher euphorisch angekündigten Verhandlungen mit den USA ist im Hinblick auf das Abkommen mit Japan offenbar mehr Zurückhaltung auf Seiten der EU-Kommission vorhanden. Man hat gerade aufgrund von Vorbehalten zu sensiblen Themen und Erfahrungen in Bezug auf nichttarifäre Handelshemmnisse und deren tatsächliche Beseitigung eine Schutzklausel für den jederzeitigen Ausstieg aus den Verhandlungen eingefügt für den Fall, dass entsprechende Zusagen von Japan nicht eingehalten werden.
Für beide Seiten ist die Automobilbranche eine Schlüsselbranche in den Verhandlungen. Es bleibt somit abzuwarten, ob eine Win-win-Lösung gefunden (und eingehalten) wird. Wann ein solches Abkommen abgeschlossen werden könnte, lässt sich daher nicht voraussagen.
Auch hier führt die EU-Kommission unabhängige Studien an, wonach ein solches Abkommen (wenn voll umfänglich implementiert) jährlich zusätzliche 119 Mrd EUR an neuen Einkünften für die EU generieren würde. Pro Familie in der EU ließe sich so ein zusätzliches Einkommen von 545 EUR im Jahr erzielen. Sollten diese Berechnungen der zukünftigen Realität entsprechen, lässt sich wenig dagegen sagen, da dadurch die wirtschaftlichen Impulse gesetzt würden, die man sich beiderseits des Atlantiks so sehr wünscht.
Es gibt aber auch Studienergebnisse mit vorsichtigeren Aussagen zu den möglichen positiven Effekten. Forscher des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung führen kritisch an, dass das Freihandelsabkommen zwei Regionen betrifft, deren wirtschaftliche Verflechtung in den vergangenen Jahren bereits relativ abgenommen hat im Vergleich zur Verflechtung mit anderen Regionen. Eine weitere Senkung des bereits niedrigen durchschnittlichen Zollsatzes von lediglich 2,8% bringt keine nennenswerten Effekte. (IMK-Pressemitteilung vom 19.06.2013 abrufbar unter http://www.boeckler.de/2728_ 43374.htm.)
Das geplante Abkommen soll nach den Vorstellungen seiner Protagonisten weitaus umfangreicher und ehrgeiziger sein als alles bisher Dagewesene. Zu den Wünschen gehört insbesondere auch der Abbau von nichttarifären Handelshemmnissen, die z.B. durch unterschiedliche Standards entstehen können. Beide Seiten sind daher bemüht, im Rahmen ihrer Verhandlungstaktik keine „roten Linien“ aufzuzeichnen – was insofern überflüssig ist, als jeder die gegenseitigen Schmerzpunkte bei kommenden Verhandlungen kennt. Es sind neben dem Umwelt-, Verbraucher- und Datenschutz, der Finanzmarktregulierung, Kulturgütern und Sozialstandards auch das öffentliche Beschaffungswesen und geistiges Eigentum.
Die USA haben seit Gründung des North American Free Trade Agreement (NAFTA) 1994 wenig Fortschritte bei der Weiterentwicklung anderer großer FTAs verzeichnen können. Die ursprünglich direkt im Anschluss an das NAFTA geplante Free Trade Area of Americas (FTAA) – mit 34 Staaten von Nordamerika über Mittel- bis Südamerika – ist irgendwo auf der langen Verhandlungsstrecke liegengeblieben. Als Zwischenerfolg konnte lediglich die DR-CAFTA (Dominican Republic – Central American Free Trade Agreement) mit sechs mittelamerikanischen bzw. karibischen Staaten abgeschlossen werden.
2009 sind die USA in Verhandlungen zu einer „Trans-Pacific Partnership (TPP)“ mit Singapur, Neuseeland, Chile, Brunei, Vietnam, Malaysia, Peru, Kanada, Mexiko und Thailand eingetreten. Obwohl dazu in der Lage, sind Japan und China bisher diesen Verhandlungen nicht beigetreten.
Die zehn ASEAN-Länder (Brunei, Indonesien, Kambodscha, Laos, Malaysia, Myanmar, Philippinen, Singapur, Thailand, Vietnam) planen zusammen mit ihren sechs asiatischen Freihandelspartnerländern (Australien, China, Indien, Japan, Neuseeland, Südkorea) derzeit die Schaffung einer größeren Freihandelszone unter dem Namen „Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP)“. Zwischen den elf TTP-Ländern und den 16 RCEP-Ländern kommt es somit zu Überlappungen.
Nicht nur hier, sondern auch weltweit gibt es zahlreiche Überlappungen zwischen den verschiedenen bestehenden und geplanten Freihandelsabkommen, die ihre spätere Anwendung in der Praxis erschweren können, z.B. wegen nicht aufeinander abgestimmter Regeln.
Die geplanten bilateralen Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA und zwischen der EU und Japan beinhalten sowohl große Chancen als auch Risiken. Die Chancen sind klarer ökonomischer Art und die Risiken eher diversifizierter politischer Natur, dessen ist man sich innerhalb und zwischen der EU und den USA, z.B. mit Blick auf China, auch bewusst [vgl. EU-Draft-Mandate vom 12.03.2013 COM (2013) 136 final; vgl. Bundesregierung in BT-Drucksache 17/13735 vom 05.06.2013]. Sollten die Auswirkungen auf andere Wirtschaftsräume bei den Verhandlungen zwischen beiden Welthandelsgiganten mit in Betracht gezogen werden, könnten erfolgreiche Verhandlungen auch Wirkung in Bezug auf die Fortsetzung der Doha-Welthandelsrunde erzielen und so eine ansonsten fortschreitende „Gemengelage“ verhindern.
Fußnote:
1) Mit einer „Gemengelage“ wurde in der deutschen Landwirtschaft die Zerstreuung einzelner Ackergrundstücke eines Besitzes über die gesamte Feldmark bezeichnet. Die Gemengelage in der Landwirtschaft behinderte aufgrund des mit ihr verbundenen Flurzwanges und der Nutzungsberechtigungen einen Aufschwung der Wirtschaft und wurde daher Ende des 19. Jahrhunderts durch Flurbereinigungen beseitigt.
Kontakt: a.krause[at]gvw.com
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