Schon Mitte Dezember 2016 wird eine WTO-rechtliche Sonderregelung auslaufen, auf deren Grundlage China bislang die Behandlung als „Marktwirtschaft“ in EU-Antidumpingverfahren versagt wird. In letzter Minute sucht die EU nach einer Lösung, die sowohl den zukünftigen Schutz vor „Billigexporten“ sicherstellt als auch die guten Handelsbeziehungen mit China wahrt. Hierbei zeichnet sich eine umfassende Reform des Antidumpingrechts ab.
Von Adrian Loets, LL.M., Rechtsanwalt, Graf von Westphalen
Seit einigen Monaten belastet der Streit um den „Marktwirtschaftsstatus“ und die EU-Antidumpingzölle zunehmend die Beziehungen zwischen der Europäischen Union (EU) und der Volksrepublik China. Hintergrund ist eine Sonderklausel im Beitrittsprotokoll Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO), die zum 11. Dezember 2016, genau 15 Jahre nach dem WTO-Beitritt der Volksrepublik, außer Kraft treten wird. Diese Vorschrift gestattet WTO-Mitgliedern, zur Prüfung eines Dumpings auf Berechnungsmethoden zurückzugreifen, die sich nicht streng an inländischen chinesischen Vergleichspreisen orientieren. Nach chinesischer Lesart bedeutet dies eine Verpflichtung der EU, China ab diesem Datum „Marktwirtschaftsstatus“ zu gewähren und auch so in Bezug auf Antidumpingzölle zu behandeln. Zur Feststellung eines Dumpings müssten nach Ansicht Pekings demnach bald unter „Dumpingverdacht“ stehende Ausfuhrpreise chinesischer Hersteller mit chinesischen Inlandspreisen verglichen werden. Bisher werden chinesische Inlandspreise hingegen nicht als frei gebildete Vergleichspreise anerkannt. Deshalb werden zur Prüfung eines Dumpings chinesische Exportpreise mit Inlandspreisen aus anderen Drittstaaten, die als Marktwirtschaften angesehen werden, z.B. den Vereinigten Staaten, verglichen.
Die EU im Dilemma
Vor diesem Hintergrund besteht die Sorge, dass die EU gedumpten Einfuhren künftig nicht mehr effektiv entgegenzutreten in der Lage sein könnte. Nach Schätzungen könnten die Dumpingspannen bei Anerkennung der chinesischen Inlandspreise um bis zu 30% sinken. Die EU-Kommission hat jedoch erst spät und auf massiven öffentlichen Druck, insbesondere der Stahlbranche, die politische Brisanz des Themas erkannt. Ursprünglich herrschte nach Informationen des European Council on Foreign Relations (ECFR) noch im November 2015 die Bereitschaft in Brüssel, China den erwünschten Marktwirtschaftsstatus zuzubilligen. In der Folge kam es zu Großdemonstrationen im Brüsseler Europaviertel und zahlreichen kritischen Stellungnahmen der betroffenen Wirtschaftsverbände wie Eurofer und der Wirtschaftsvereinigung Stahl. Im Mai 2016 verabschiedete das EU-Parlament eine Resolution, in der es feststellte, China erfülle nicht die Voraussetzungen einer Marktwirtschaft, und in der die EU-Kommission aufgerufen wurde, für effektiven Schutz auch nach Auslaufen der Sonderregelung zu sorgen. Seitdem begann bei der Kommission eine fieberhafte Suche nach Lösungen. Noch bei den letzten Sondierungsgesprächen am 20. Juli 2016 schien alles offen. So präsentierte die Kommission drei mögliche Handlungsweisen: erstens eine unveränderte Beibehaltung der bisherigen Antidumpingvorschriften, zweitens eine Zubilligung des „Marktwirtschaftsstatus“ und drittens einen „neuen Ansatz“, d.h. eine Reform der handelspolitischen Schutzinstrumente.
Ziel Produktionsfaktorenmethode?
Seit dem 18. Oktober 2016 steht nun fest, dass die Kommission – wie von vielen Beobachtern vermutet – den dritten Weg beschreiten und ihre bereits 2013 angestoßenen Reformvorschläge für die handelspolitischen Schutzinstrumente der Union, um weitere Maßnahmen ergänzt, vorantreiben möchte. In einer Mitteilung an Parlament und Rat [COM(2016) 960 final] teilte die Kommission mit, sie „beabsichtige“, den EU-Institutionen weitere Änderungen der Handelsschutzvorschriften „vorzuschlagen“. Es werde im Kern um eine „neue Antidumpingmethodik für die Erfassung von Marktverzerrungen“ gehen, die „verschiedene Kriterien“ berücksichtige und „länderneutral“ auf alle WTO-Mitglieder angewandt werden könne.
Auch wenn das Schlagwort in der Mitteilung nicht fällt, ist hiermit wohl die sogenannte „Produktionsfaktorenmethode“ gemeint. Bei dieser auch von den USA angewandten Methode würden Wettbewerbsverzerrungen auf Ebene der in die Ware einfließenden Produktionsfaktoren (z.B. Arbeit, Rohstoffe, Kapital) untersucht. Dann käme es auf die politisch heikle Einordnung als Marktwirtschaft nicht länger an. Als zweite zentrale Änderung schlägt die Kommission eine Abschaffung der „Regel des niedrigeren Zollsatzes“ („Lesser Duty Rule“) vor. Diese führt zurzeit dazu, dass Antidumpingzölle bei Abweichungen zwischen der ermittelten Dumpingspanne und der Schadensspanne für die Unionsindustrie in der Regel nach der niedrigeren dieser beiden Größen festgesetzt werden. Da die beiden Größen teils erheblich auseinanderliegen (beispielsweise bei warmgewalzten Coils um 83%), könnten hiermit mehr Flexibilität und höhere Antidumpingzölle erreicht werden.
Die ursprünglich diskutierte Variante, China den „Marktwirtschaftsstatus“ (wahlweise nur sektorweise einen „Marktwirtschaftsstatus à la carte“) zum Jahresende in Form einer „politischen“ Erklärung von symbolischem Charakter zu verleihen, ohne an der Berechnung kurzfristig etwas zu ändern – einen Präzedenzfall für ein ähnliches Vorgehen bietet der Umgang mit Russland –, ist damit offenbar vom Tisch. Der Plan der Kommission, die Debatte von dem symbolisch aufgeladenen „Marktwirtschaftsstatus“ hin zu den tatsächlichen Wettbewerbsverzerrungen zu lenken, könnte sich in der Tat als geschickter politischer Schachzug erweisen, um zum einen dem Druck innerhalb der EU nachzukommen, zum anderen aber den so wichtigen Handelspartner China nicht zu brüskieren.
Offene Fragen
Letzterer Punkt ist für weite Teile der EU-Exportwirtschaft von essentieller Bedeutung und mag das lange Zögern der Kommission, sich der Problematik zu stellen, erklären. Viele Unternehmen trieb zuletzt zunehmend die Sorge um, ihre China-Aktivitäten könnten durch einen drohenden Handelskonflikt zwischen der EU und China in Mitleidenschaft gezogen werden. Auch die EU-Mitgliedstaaten waren insofern bislang gespalten, je nachdem, ob ihre wirtschaftlichen Interessen eher im Freihandel (z.B. Schweden und Großbritannien) oder in dem Schutz betroffener Industrien (z.B. Italien und Frankreich) liegen. Ob Peking sich mit der sich nun abzeichnenden Lösung ohne den als Prestigefrage betrachteten „Marktwirtschaftsstatus“ zufriedengeben wird, wird sich allerdings noch zu erweisen haben.
Eine ganz andere Frage ist darüber hinaus, ob ein Gesetzgebungsverfahren für die geplanten Rechtsänderungen vor dem 11. Dezember 2016 überhaupt noch abgeschlossen werden kann. Der Vorsitzende des Handelsausschusses des Europäischen Parlaments, Bernd Lange, wies zuletzt in einem „Brandbrief“ an Handelskommissarin Cecilia Malmström Anfang Oktober auf die notwendige Beteiligung des Parlaments als Mitgesetzgeber hin und ergänzte, er halte es für unwahrscheinlich, dass die Rechtsänderungen angesichts der knappen Zeit bis zum Stichtag in Kraft treten könnten. Die Kommission fordert in ihrer aktuellen Mitteilung nun den Rat auf, bei seiner Tagung am 11. November 2016 zu einer politischen Einigung zu kommen. Ob die Mitgliedstaaten sich zu einer solchen Einigung durchringen können, ist zum Veröffentlichungstermin noch unklar.
Ausblick
Doch selbst wenn eine Überarbeitung des handelspolitischen Instrumentariums rechtzeitig gelingen sollte, wäre dies weder für dumpingbedrohte EU-Indus-trien noch für EU-Exporteure Anlass zur Entwarnung. Die enormen Überkapazitäten, gerade im chinesischen Stahlsektor, werden nicht von heute auf morgen verschwinden. Im Gegenteil ist vorstellbar, dass sich der Exportdruck in Richtung Europa zunächst noch verschärfen könnte, nachdem die USA jüngst verschärfte Antidumpingzölle von bis zu 415% auf chinesische Stahlerzeugnisse verhängt haben. Ob Peking daher künftige EU-Antidumpingzölle, gleichviel, wie sie bestimmt wurden, akzeptieren wird, muss sich noch erweisen, zumal angesichts einer sich eintrübenden Wirtschaftslage. Für die EU-Wirtschaft bleibt daher im Augenblick nur gespanntes Abwarten.
Kontakt: a.loets@gvw.com