Die Protestbewegungen, die seit Anfang 2011 in vielen Ländern zu beobachten sind, führen zu tiefgreifenden Veränderungen in der Region. Der politische Wandel erweist sich als komplex und voller Unwägbarkeiten und wird im Jahr 2012 nicht ohne Folgen für die wirtschaftliche und finanzielle Entwicklung Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens bleiben. Eine Neubewertung der Länder­risiken durch Coface erfuhren im Januar 2012 jedoch lediglich zwei Länder: Ägypten und Syrien.

Von Dr. Dirk Bröckelmann, Referent Unternehmenskommunikation, Coface Deutschland AG

Politische Umbrüche wurden in Folge der Entmachtung der Staatspräsidenten Ben Ali in Tunesien und Husni Mubarak in Ägypten sowie des Oberbefehlshabers Muammar al-Gaddafi in Libyen und schließlich des Präsidenten Ali Abdullah Saleh im Jemen Anfang 2012 verzeichnet. Bedeutende sozial und politisch motivierte Bürgerproteste haben Bahrain erschüttert, während sich in Syrien der schwelende Bürgerkrieg fortsetzt. Protestbewegungen sind in einem kleineren Ausmaß auch in Algerien, Jordanien, Marokko, Kuwait und Oman ausgebrochen und ebenso in einem spezifischen Kontext im Libanon sowie im Iran.

Die gesamte Region verzeichnete 2011 ein Wirtschaftswachstum von 3,7%, das sich 2012 voraussichtlich auf diesem Niveau stabilisieren wird, obwohl sich die Weltkonjunktur abschwächt und sich in einzelnen Ländern der Region die politischen Unruhen fortsetzen. Jedoch liegt das Wachstum deutlich unter dem weltweiten Durchschnitt der aufstrebenden Länder. Dabei sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern der Region nach wie vor ausgeprägt, was davon abhängt, ob ein Staat ein Ölexportland oder Ölimportland ist.

In den Ölländern dürfte der anhaltend hohe Ölpreis das Wachstum stützen und 2012 für Überschüsse in den öffentlichen Haushalten bzw. Leistungsbilanzen sorgen. Trotz konjunktureller Abschwächung in den Industriestaaten wird der Ölpreis (Brent) im Jahresdurchschnitt 2012 auf 102,5 USD je Barrel geschätzt. In Saudi-Arabien (Länderbewertung: A4), der ­führenden Wirtschaft der Region, werden die Öleinnahmen zur weiteren Finanzierung des Infrastrukturausbaus dienen. Auch im Sozialbereich sind bereits höhere Ausgaben geplant, um der Unzufriedenheit der Bevölkerung entgegenzuwirken. In Qatar (A2) wird sich das Wachstum abschwächen, nachdem das Emirat zwei Boomjahre in Verbindung mit sehr starken Produktionssteigerungen von Flüssiggas erlebte. In den Vereinigten Arabischen Emiraten (A3) liegt der Wachstumsmotor in Abu Dhabi. Das Emirat profitiert von der hohen Ölproduktion und den öffentlichen Ausgaben im Infrastrukturbereich. Die wirtschaftliche Aktivität in Dubai wird dagegen immer noch durch die Überschuldung des Emirats und den Abschwung des Immobilienmarktes gebremst. Das Wachstum im Iran (D) wird durch die erneute Verschärfung der internationalen Sanktionen gedrosselt. Im Irak (D) ist 2012 mit einem stärkeren Wachstum zu rechnen, obwohl die politischen Verhältnisse instabil und die Sicherheitslage schlecht bleiben und die US-amerikanische Armee seit Ende 2011 ihre Truppen langsam abzieht.

Algerien (A4) setzt seine expansive Fiskalpolitik fort und versucht dadurch die sozialen Spannungen abzumildern. In Libyen (D), wo eine neue Regierung installiert wird, ist 2012 mit einem starken Wachstumsschub zu rechnen. Hierfür werden die Wiederaufbauarbeiten sorgen, die nach dem dramatischen Einbruch durch den Bürgerkrieg im Jahr 2011 notwendig geworden sind.

Die Nichtölländer bzw. Ölimportländer Tunesien (A4Ø) und Ägypten (auf C herabgestuft) befinden sich in einer besonderen Situation. Die politischen Ereignisse entfalten – zumindest vorübergehend – negative Wirkungen auf die wirtschaftliche und finanzielle Lage dieser zwei Staaten. Die Tourismusbranche – sie trägt mit einem Anteil von 17% zum BIP in Tunesien und 16% zum BIP in Ägypten bei – leidet unter ausbleibenden Touristen aus dem Westen. Die sinkenden Tourismuseinnahmen werden die öffentlichen Finanzen und die Leistungsbilanzen stark belasten.

In Syrien (auf D herabgestuft) ist die politische Lage äußerst angespannt und die internationalen Sanktionen werden das Wirtschaftswachstum, die öffentlichen Finanzen und die Leistungsbilanz stark beeinträchtigen. In Jordanien (B) wird das Wachstum durch Unsicherheiten angesichts zunehmender regionaler Konflikte in Mitleidenschaft gezogen, während die sozialen Maßnahmen, die 2011 infolge der Bürgerproteste vorgenommen wurden, den bereits defizitären öffentlichen Haushalt zusätzlich belasten werden. Marokko (A4), das seine Exporte stark auf die EU-Märkte ausrichtet und hohe Exporterlöse durch den Tourismus und die Transferzahlungen seiner Emigranten erwirtschaftet, ist derzeit weniger von der Schockwelle betroffen. Dort wird 2012 ein relativ robustes Wachstum erwartet.

Zu den großen Herausforderungen der Region zählt neben den politischen Reformen die Überwindung der Jugendarbeitslosigkeit, die in der Arabischen Welt im Durchschnitt bei 25% liegt. Die Ölländer stehen vor der Aufgabe, die wirtschaftliche Diversifizierung weiter voranzutreiben und für eine gerechtere Einkommensverteilung zu sorgen.

Kontakt: dirk.broeckelmann[at]coface.de

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