Der politische Umsturz in den arabischen Ländern zeigt: Bei aller wirtschaftlichen und finanziellen Analyse bleiben die Menschen der entscheidende Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung. Der Ölreichtum hat der Region nicht nur hohe Einkommen, sondern auch Ungleichheit und hohe Arbeitslosigkeit beschert. Der Erfolg der eingeleiteten politischen Transformation hängt davon ab, ob die Verteilung des Reichtums und die Berücksichtigung der Bürgerinteressen gelingt.

Von Christoph Witte, Direktor Deutschland, Delcredere N.V.

Der starke Anstieg der Ölpreise vor Ausbruch der Finanzkrise führte zu beachtlichen Überschüssen in den Leistungsbilanzen und Staatshaushalten der führenden Ölexportländer in Nahost und Nordafrika. Das regionale Wirtschaftswachstum erreichte 6% im Jahr 2007. Der angehäufte Reichtum diente während der Finanzkrise als finanzielles Polster.

Die Länder ohne hohe Öleinnahmen litten während der Finanzkrise unter dem Einbruch der Auslandsnachfrage und dem Ausfall der meist von den Ölländern finanzierten Investitionsprojekte. Trotzdem erreichte die Region im Durchschnitt auch 2009 noch ein Wirtschaftswachstum von 2%.

Auch wenn die mangelnde Transparenz die Analyse der Unternehmen erschwerte, war die gesamtwirtschaftliche Entwicklung mehr als befriedigend. Daher blieben die eng mit der wirtschaftlichen Situation verknüpften Konvertibilitäts- und Transferrisiken relativ gering.

Der überraschende Ausbruch öffentlicher Proteste in Tunesien, Ägypten, Bahrain, Libyen, dem Jemen, Jordanien, Marokko und Algerien im Jahr 2011 löste Besorgnis aus und führte zu bedeutender politischer Instabilität in einigen dieser Länder. In Tunesien und Ägypten stürzten die Regierungen. Libyen befindet sich inzwischen sogar im Bürgerkrieg.

Im Gegensatz zu den Protesten gegen steigende Lebensmittelpreise im Jahr 2008 fordert die Bevölkerung nun nicht nur eine günstigere Versorgung, sondern auch einen grundlegenden Wandel ihrer Lebensverhältnisse. Die gute wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahre führte nicht in gleicher Weise zu einer Verbesserung der Beschäftigungsmöglichkeiten und der Bürgerrechte. Die ungleiche Einkommensverteilung und hohe Arbeitslosenquoten bestanden weiterhin. In Ägypten betrug das durchschnittliche Wirtschaftswachstum von 2000 bis 2008 4,7%, die Arbeitslosenquote sank jedoch nur leicht von 9,0% auf 8,1%. Bis 2010 stieg sie wieder auf 9,2%. Unter den Jugendlichen ist die Arbeitslosigkeit mit 25% noch deutlich höher.

Bislang hatten Analysten nicht erwartet, dass die lokalen Regierungen durch die Opposition oder bürgerliche Proteste destabilisiert werden könnten, außer vielleicht in Ländern wie dem Jemen. Politische Instabilität wurde nicht als bedeutendes Risiko in Ländern wie Tunesien oder Libyen gesehen, wo die Machtverteilung seit Jahrzehnten nicht in Frage gestellt worden war.

Das bedeutet nicht, dass es einen starken Rückhalt für die politischen Führer gegeben hätte. Es fehlten oft die Mittel, den Führungsanspruch in Frage zu stellen, da die Meinungs- und Pressefreiheit nicht gewährleistet war. Nun hat sich die Bevölkerung eindrucksvoll zu Wort gemeldet, und ihre Forderung nach Arbeitsplätzen, politischem Einfluss und besserer Regierungsführung kann nicht mehr ignoriert werden.

Natürlich trübt der anhaltende Mangel an innenpolitischer Ordnung die gesamtwirtschaftlichen Aussichten und kann das politische Risiko für Forderungen gegenüber diesen Ländern erhöhen. Die politischen Führer der Region Nahost und Nordafrika stehen ernsten innenpolitischen Herausforderungen gegenüber, da die Bevölkerung einen sozialen und politischen Wandel fordert.

In Saudi-Arabien hat der König zusätzliche Sozialausgaben angekündigt, um massive soziale Unruhen zu vermeiden, ohne politische Reformen einleiten zu müssen. Die Reaktion der saudi-arabischen Bevölkerung auf diese Maßnahmen ist nun entscheidend für die Einschätzung des politischen Risikos. Dies gilt auch für Ägypten und Tunesien, wo die Bevölkerung nach der Ablösung der früheren Präsidenten Mubarak und Ben Ali strukturelle politische und soziale Reformen erwartet.

Die mittel- und langfristige Risikoeinschätzung der politischen Transformation in Nordafrika und Nahost hängt von der erfolgreichen Einführung einer Politik der Umverteilung und demokratischen Beteiligung ab. Eine bessere Politik kann zu einem Wirtschaftswachstum unter Einbeziehung aller Bevölkerungsteile führen und die langfristigen Entwicklungsaussichten verbessern.

Wenn der Reformprozess jedoch scheitert und sich die Unruhen in der Region weiter ausbreiten, dürften die Ölpreise weiter steigen und das weltweite Wirtschaftswachstum begrenzen. Daher muss die Entwicklung in der für die Weltwirtschaft so wichtigen Region genau beachtet werden, um die Einschätzungen der weiteren Entwicklung anzupassen.

Kontakt: c.witte[at]delcredere.eu

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