Innergemeinschaftliche Lieferungen unterlagen bis Ende 1992 dem Grenzausgleich: Die Einfuhr aus einem Mitgliedstaat war der Einfuhrumsatzsteuer unterworfen, die Ausfuhr in einen anderen Mitgliedstaat war steuerfrei. Mit dem steuerlichen Binnenmarkt 1993 ist dieses System umgestellt worden: Die Lieferung eines Gegenstands in einen anderen Mitgliedstaat, die innergemeinschaftliche Lieferung, ist steuerfrei, der Erwerb dieses Gegenstands in dem anderen Mitgliedstaat unterliegt der sog. Erwerbssteuer.
Von Dr. Ulrich Schrömbges, Rechtsanwalt und Steuerberater, Schrömbges + Partner
Damit sind auch schon die drei materiellen Steuerbefreiungsvoraussetzungen benannt: die Übertragung der Verfügungsbefugnis, die physische Verbringung von einem Mitgliedstaat in den anderen und die Unternehmereigenschaft, die Steuerpflichtigkeit des Erwerbers. Kontrolliert wird dieses System des innergemeinschaftlichen Handels durch den Handel selbst, durch Buch- und Belegnachweise. Kein Wunder also, dass sich die „schwarzen Schafe“ hier nur so tummeln.
Kein Wunder auch, dass erhebliche Mehrwertsteuerausfälle zu verzeichnen sind. Die Europäische Kommission schätzt in einer Stellungnahme vom 31.07.2012, dass durchschnittlich rund 12% des „eigentlichen“ Mehrwertsteueraufkommens eines jeden Mitgliedstaats betrügerischen Praktiken zum Opfer fallen, bei manchen sollen es sogar 20% sein, insgesamt soll es um rund 100 Mrd EUR gehen, die jedes Jahr in den 27 Mitgliedstaaten hinterzogen werden. Eine gewaltige Summe!
Besonders schlimm soll der Umsatzsteuerbetrug sein, wenn eine aus einem Drittland losgeschickte Nichtgemeinschaftsware in direktem Anschluss an ihre Verzollung zum Steuersatz Null im Mitgliedstaat A in einen anderen Mitgliedstaat B steuerfrei weitergeliefert wird. Darüber gibt es sogar den „Special Report No 13“ aus dem Jahre 2011 des Europäischen Rechnungshofes: „Does the Control of Customs Procedure 42 prevent and detect VAT evasion?“
Aufgrund dieses Berichts ist das bislang rein nationale Nachweissystem speziell für die innergemeinschaftliche Anschlusslieferung im Zollverfahrenscode 4200 unionsrechtlich mit Wirkung zum 01.01.2011 verschärft worden (Richtlinie 2009/691/ EG vom 25.06.2009). Danach ist der Austausch der Umsatzsteueridentifikationsnummern (UID) aller Beteiligten unerlässlich.
Unerklärlich allerdings ist, dass eine naheliegende und wirksame Maßnahme der Betrugsbekämpfung nicht ergriffen wird: eine – elektronische – Kontrollmitteilung des Abfertigungszollamts im Einfuhrmitgliedstaat A an das für den Erwerber zuständige Finanzamt im Bestimmungsmitgliedstaat B und dessen Rückbestätigung – ähnlich, wie die wechselseitige Kommunikation zwischen Ausfuhr- und Ausgangszollstelle im elektronischen Ausfuhrsystem ATLAS funktioniert.
Übrigens: Nach Auffassung des EuGH (Urteil vom 29.03.2012, C-414, 10 Rn. 33, Veleclair) gibt es trotzdem keine Anhaltspunkte dafür, dass bei der Einfuhr mehr als sonst betrogen wird; angesichts der zollamtlichen Überwachung scheint sogar eher das Gegenteil richtig.
Nunmehr hat die Kommission ein neues Instrument zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs vorgeschlagen. Sie hat am 31.07.2012 einen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der MwStSystRL „in Bezug auf einen Schnellreaktionsmechanismus bei Mehrwertsteuerbetrug“ (COM2012428)) vorgelegt.
Danach soll ein Mitgliedstaat, der mit einem plötzlichen und massiven Umsatzsteuerbetrug konfrontiert ist, zeitlich befristet – maximal ein Jahr – Notmaßnahmen einleiten dürfen, die so in der MwStSystRL nicht vorgesehen sind. Konkret ist die Einführung des „Reverse Charge Mechanism“ zur Bekämpfung des Umsatzsteuerkarussells vorgesehen.
Beides, sowohl der Karussellbetrug als auch der „Reverse Charge Mechanism“, bedarf der Erläuterung.
Die verschiedenen Formen des MwSt-Betrugs werden begrifflich oft unter dem Schlagwort des „Karussellbetrugs“ zusammengefasst:
Die nächstliegende Form ist die Ausstellung von Rechnungen mit Steuerausweis, ohne dass der Rechnungsaussteller die Mehrwertsteuer an die Steuerverwaltung abführt. Bereits darin liegt eine Steuerhinterziehung. Der nachfolgend Beteiligte macht die in der Rechnung ausgewiesene Mehrwertsteuer zum Vorsteuerabzug geltend. Nicht selten wirken beide Unternehmen kollusiv zusammen. Beim Rechnungsaussteller handelt es sich zumeist um eine Scheinfirma (c/o-Adresse, Geschäftsführer im Ausland, Vermögen besteht überwiegend aus Bankkonten), die nach kurzer Zeit wieder verschwindet und deren Spuren bei einer späteren Steuerprüfung nicht mehr zurückverfolgt werden können. Am meisten verbreitet ist diese Form des MwSt-Betrugs im Zusammenhang mit innergemeinschaftlichen Liefergeschäften (Missing Trader Intra-Community Fraud – MTIC).
Beim MTIC-Betrug handelt es sich um eine organisierte Form des Vorsteuerabzugsbetrugs durch aufeinanderfolgende Erwerbs- und Verkaufsumsätze. Die daran Beteiligten nutzen den Umstand aus, dass zur Teilnahme am innergemeinschaftlichen Warenhandel eine UID zu erteilen ist, unter der formkonforme Rechnungen zur Vermittlung eines Vorsteuerabzugsguthabens in Umlauf gebracht werden können. Potentielle Betrüger sind aus dem MwSt-System in seiner heutigen Form nur schwer herauszuhalten. Gleichzeitig wird der Umstand ausgenutzt, dass der Lieferer von steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferungen Anspruch auf Gutschrift seiner Vorsteuer durch Erstattung hat.
Üblicherweise erwirbt ein Händler (zu- meist Scheingesellschaft) dabei Waren aus einem anderen Mitgliedstaat. Um diese Waren steuerfrei beziehen zu können und den damit einhergehenden innergemeinschaftlichen Erwerb zu deklarieren, wird ihm dafür von den lokalen Steuerbehörden eine UID erteilt. Der Händler verkauft die Waren dann in seinem jeweiligen Land weiter und stellt seinem Abnehmer dafür Mehrwertsteuer in Rechnung. Er vereinnahmt die Mehrwertsteuer, führt sie aber nicht an die Steuerverwaltung ab und taucht wenig später unter. Das ist der „Missing Trader“. Er bezeichnet einen für MwSt-Zwecke registrierten Unternehmer, der in betrügerischer Absicht Gegenstände oder Dienstleistungen ohne Zahlung der Mehrwertsteuer erwirbt oder zu erwerben vorgibt und beim Weiterverkauf dieser Gegenstände oder Dienstleistungen Mehrwertsteuer in Rechnung stellt, die geschuldete Mehrwertsteuer aber nicht an die zuständige staatliche Stelle abführt (vgl. Art. 2 Abs. 1 der VO 1925/2004 zur Regelung der Durchführung bestimmter Vorschriften über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer).
Der lokale Abnehmer veräußert die Waren seinerseits weiter und macht in Bezug auf die ihm in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer den Vorsteuerabzug geltend. Das ist der „Buffer“. Der „Buffer“ ist ein inländisches Unternehmen, das auch anderweitige Umsätze erzielt und deshalb die von dem inländischen Missing Trader in Rechnung gestellte Vorsteuer möglichst unauffällig verrechnen kann. Oft wird auch noch in diesem Karussell zur effizientesten Verschleierung ein „Broker“ eingeschaltet.
Die Waren kehren dann als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung in ihr Ursprungsland zurück oder gelangen nach demselben Schema in einen anderen EU-Mitgliedstaat. Dieselben Gegenstände zirkulieren typischerweise mehrmals zwischen Mitgliedstaaten hin und her (Karussell), so dass dem Fiskus die dem Buffer als Vorsteuer erstattete, aber nicht abgeführte Mehrwertsteuer mehrfach verlorengeht. Das tatsächliche Geschehen wird i.d.R. durch eine komplexe Umsatzkette unter Einbeziehung von Scheinfirmen in mehreren Ländern verborgen. Innerhalb des Karussells zirkulieren in der Praxis häufig nur Rechnungen. Die Waren sind aber real existent und werden nach ihrer Nutzung zum Zweck des Vorsteuerabzugsbetrugs i.d.R. unversteuert an zumeist außerhalb des Karussells stehende Endabnehmer veräußert.
In der Praxis weitaus häufiger sind allerdings „verschleierte“ Lieferungen und Lieferketten, bei denen die den innergemeinschaftlichen Erwerb zu vertretende Person unter einer entwendeten MwSt-Identität auftritt oder aber als Missing Trader verschwindet, ohne ihren Obliegenheiten aus dem innergemeinschaftlichen Erwerb und einem sich anschließenden inländischen Weiterverkauf nachgekommen zu sein. Da bei diesen Personen nie die Absicht besteht, die Erwerbsteuer und vor allem die in der Verkaufsrechnung ausgewiesenen Mehrwertsteuer abzuführen, können sie die Nichtentrichtung der Mehrwertsteuer in ihre Preiskalkulation einbeziehen und ihre Produkte unter dem üblichen Marktpreis anbieten.
Um bis zum beabsichtigten Untertauchen möglichst viele solcher Geschäfte mit möglichst hohem MwSt-Volumen abwickeln zu können, werden dabei neben Fahrzeugen und Edelmetallen hochpreisige Handelswaren mit hoher Umschlagsgeschwindigkeit wie z.B. Mobiltelefone, Speicherchips und Parfums bevorzugt. Der Karussellbetrug hat sich zuletzt auch auf den Handel mit Emissionsrechten für Treibhausgase (Dienstleistungen) ausgeweitet, die über elektronische Börsen schnell weiterverkauft werden können. Schon jetzt ist erkennbar, dass der Vorsteuerabzug auf den Handel mit Strom und Gas verlagert wird, der sich ebenfalls über elektronische Börsen vollzieht.
Durch konventionelle Maßnahmen wie intensivierte Prüfungshandlungen vor Erteilung einer UID oder die Verkürzung der Abgabezyklen und -fristen der laufenden MwSt-Deklarationen ist das Problem des Vorsteuerbetrugs – das zeigt die Erfahrung – nur eingeschränkt in den Griff zu bekommen.
Radikal wäre die Einführung des Ursprungslandprinzips, also die Verwirklichung des steuerlichen Binnenmarkts; er würde das störanfällige Steuersystem von innergemeinschaftlicher Lieferung und Erwerb obsolet machen. Denn: Ein steuerlicher Binnenmarkt funktioniert wie ein Inlandsmarkt. Er würde aber Exportmitgliedstaaten bevorzugen, In jedem Fall führte er zu einer Verschiebung der Mehrwertsteueraufkommen der einzelnen Mitgliedstaaten. Das ist nicht gewollt, „sinnigerweise“ auch von Deutschland nicht. Also: Die Implementierung eines wirklichen steuerlichen Binnenmarkts ist nicht absehbar.
Helfen würde also bei Fortgeltung des Allphasenprinzips innerhalb der Unternehmenskette nur die Zusammenlegung des Entrichtungstatbestands mit dem Vorsteuerabzugsanspruch auch bei inländischen Transaktionen, so wie es beim Reverse-Charge-Verfahren der Fall ist, worauf auch die Europäische Kommission hinweist, was dem Karussellbetrug den Boden entzieht. Das Reverse-Charge-Verfahren führt zum Übergang der Steuerschuldnerschaft auf den Leistungsempfänger, verschiebt also auch den Zeitpunkt der Steuerentrichtung. Die Steuerentrichtung und ein sich daraus ergebender Vorsteuerabzugsanspruch werden in der MwSt-Deklaration des Leistungsempfängers zusammengelegt. Bei korrespondierendem Vorsteuerabzugsanspruch ergibt sich aus der Sicht des Leistungsempfängers daraus ein cashflow-neutrales Nullsummenspiel.
Der praktische Anwendungsbereich des Reverse-Charge-Verfahrens ist bislang je nach Land verschieden. Für den Übergang der Steuerschuld vom Leistungserbringer auf den Leistungsempfänger wird vielerorts vorausgesetzt, dass der Leistungsempfänger lokal ansässig und als MwSt-Subjekt registriert ist. In einzelnen Ländern wie z.B. in Spanien (Gegenstandslieferungen) kann die Steuerschuld aber auch auf einen Gebietsfremden übergehen, der sich sodann als Leistungsempfänger umsatzsteuerlich registrieren lassen muss.
Viele EU-Länder wie Belgien, Deutschland (§ 13b Abs. 2 Nr. 6 UStG), Großbritannien, Irland, die Niederlande, Luxemburg und Spanien kennen ein generelles Reverse-Charge-Verfahren für den betrugsanfälligen Handel mit Emissionsrechten, wobei Frankreich den Emissionshandel nach wie vor als ausgenommene Finanztransaktion behandelt. Grundlage dafür ist Art. 199a MwStSystRL (eingeführt durch die Richtlinie 2010/23/EU vom 16.03.2010). In Großbritannien gilt das Reverse-Charge-Verfahren überdies bereits seit 2007 für den Handel mit Mobiltelefonen und Computerchips ab einem Transaktionswert von 5.000 GBP, ausgehend von Art. 395 der MwStSystRL. Einzelermächtigungen für die Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens auf Mobiltelefone und Computerchips sollen auch Deutschland, Italien und Österreich vorliegen.
Die Einführung eines sämtliche Leistungen betreffenden Reverse-Charge-Verfahrens war auf EU-Ebene bislang nicht durchsetzbar. Genau das fordert aber jetzt die Europäische Kommission mit ihren Vorschlag COM428 zur Änderung der MwStSystRL, mit dem ein Schnellreaktionsmechanismus gegen den Umsatzsteuerbetrug (QRM), zunächst aber das Reverse-Charge-Verfahren eingeführt werden soll. Die genauere Ausgestaltung bleibt, wie die einstimmige Verabschiedung des Änderungsvorschlags durch die 27 Mitgliedstaaten, abzuwarten.
Auch arglose Unternehmen können in ein MwSt-Karussell verwickelt werden, indem sie unwissentlich die Rolle des den Vorsteuerabzug geltend machenden „Buffer“ einnehmen oder aber innergemeinschaftliche Lieferungen an einen „Missing Trader“ ausführen. Dabei besteht die Gefahr, als Gutgläubiger selbst zum Beschuldigten einer Steuerhinterziehung zu werden. So kann die Steuerfreiheit von an einen Missing Trader getätigten innergemeinschaftlichen Lieferungen mit der Begründung versagt werden, dass es sich bei dem vom Lieferer aufgezeichneten Abnehmer nicht um den tatsächlichen Lieferungsempfänger, sondern um ein Scheinunternehmen handelt und der Liefer seine Sorgfaltspflichten verletzt habe.
Für den Vorsteuerabzug ist es zwar nicht erforderlich, dass die in der Rechnung ausgewiesene Steuer gegenüber den Finanzbehörden erklärt oder entrichtet wurde. Der Vorsteuerabzug aus der Rechnung des Missing Trader kann aber mit der Begründung versagt werden, dass der Rechnungsaussteller (Scheinunternehmen ohne wirtschaftliche Substanz) mit der Person des tatsächlichen Lieferers nicht identisch ist und die Rechnungsausstellung durch den Missing Trader nicht auf die Verschaffung der wirtschaftlichen Verfügungsmacht gerichtet war. Der gute Glaube an die Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs wird gegenwärtig nicht geschützt. Liegen die materiellen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs nicht vor, so kann aber unter Berücksichtigung von Vertrauensschutzgrundsätzen ggf. ein Vorsteuerabzug im Billigkeitsverfahren in Betracht kommen.
Die einzig erfolgversprechende Sicherungsmaßnahme bis zur Einführung des QRM gegen das Risiko, unwissentlich in ein MwSt-Karussell involviert zu werden, ist die Sensibilisierung aller Unternehmensbereiche vom Einkauf über den Verkauf bis hin zur Buchhaltung und Logistik. Die passive Einbindung in einen MwSt-Betrug macht sich i.d.R. durch einen plötzlichen Umsatzanstieg mit erst seit kurzer Zeit am Markt agierenden Geschäftspartnern bemerkbar. Neuanbieter und Neukunden sollten stets vor der Geschäftsaufnahme überprüft werden (Handelsregisterauszug, Gewerbeanmeldung, ein gerichteter Geschäftsbetrieb vs. c/o-Adresse oder Privatwohnung).
Kontakt: ulrich.schroembges[at]schroembges.net