Die russische Wirtschaft beginnt sich zu erholen. Nach der schweren Rezession im Jahr 2009 und der anhaltenden Trockenheit im vergangenen Sommer fassen Unternehmen und Verbraucher wieder Vertrauen. Doch die mittelfristigen Wachstumsprognosen, die eine Steigerung des realen BIP um rund 4% vorhersagen, liegen nicht nur unter den Vorkrisenwerten. Russland fällt auch hinter die anderen führenden Schwellenländer zurück. Der Einkommensabstand zu den Industrieländern verringert sich nur langsam.
Von Christoph Witte, Direktor Deutschland, Delcredere N.V.
Russland ist der größte Exporteur von Energieträgern (Öl und Gas) weltweit und profitiert daher von den anhaltenden Unruhen in der arabischen Welt. Das russische Erdgas ist vor allem für Europa eine Alternative zu den Lieferungen aus arabischen Ländern. Aber auch der Atomunfall in Japan könnte die Nachfrage nach russischem Gas erhöhen, wenn dort Gaskraftwerke den ausfallenden Atomstrom ersetzen sollen. Russland plant daher den Ausbau seiner Flüssiggaskapazitäten. Die starke Abhängigkeit der russischen Wirtschaft von ihrem Energiesektor hält an, Öl und Gas stellen nahezu zwei Drittel der russischen Exporte.
Das Risiko einer Übertragung der politischen Unruhen in den arabischen Ländern auf Russland ist relativ gering, da die explosive Mischung aus einer Verteuerung der Nahrungsmittel und mangelnden Erwerbsmöglichkeiten in Russland nicht gegeben ist. Diese Faktoren haben in den arabischen Ländern offenbar stärker zu den Aufständen beigetragen als politische Gründe. Trotzdem rufen die dortigen Ereignisse die Anfälligkeit autoritärer Regime für plötzliche Umstürze in Erinnerung.
Obwohl die Preise für Russlands wichtigste Exportgüter stark gestiegen sind, geht der Leistungsbilanzüberschuss weiter zurück. Dies spiegelt den unerwartet starken Anstieg der Importe wider, der die Exportzunahme übertrifft. Die Aufwertung des russischen Rubel angesichts steigender Rohstoffpreise unterstützt die Importnachfrage.
Unter der Annahme, dass der Rohölpreis 2011 sein derzeitiges Niveau nicht deutlich unterschreitet, wird der Staatshaushalt positiv abschließen. Dies bedeutet allerdings, dass das zum Ausgleich des Haushalts notwendige Ölpreisniveau in wenigen Jahren von 30 US$/Barrel auf 110 US$/Barrel gestiegen ist. Darüber hinaus wird sich das Defizit ohne Berücksichtigung der Öleinnahmen – das die reale Situation eines rohstoffexportierenden Landes besser widerspiegelt und 2010 bei fast 14% des BIP lag – nur wenig verringern. Dieses schwindende Polster der Öleinnahmen ist das Resultat der scharfen und wiederholten Erhöhungen der Sozialausgaben. Die Abhängigkeit des öffentlichen Sektors von den Einnahmen aus Energieträgerexporten stieg im vergangenen Jahr, die Steuern auf Öl und Gas tragen nun ein Viertel zu den gesamten Staatseinnahmen bei.
Vor gut zwei Jahren musste Russland zuletzt einen Ölpreisrutsch von rund 140 US$/Barrel auf unter 40 US$/Barrel verkraften – mit verheerenden Auswirkungen auf die rohstofflastige Wirtschaft. Die folgende tiefe Rezession zeigte die Grenzen des russischen Wirtschaftsmodells schonungslos auf. Seither wurde die wirtschaftliche Modernisierung zum Leitbild der Regierung. Aber nicht nur das wirtschaftliche Modell benötigt dringend eine Überarbeitung, auch das Sozialsystem muss an eine alternde und schrumpfende Bevölkerung angepasst werden, um nicht in eine bedrohliche Schieflage zu geraten. Die derzeit hohen Ölpreise könnten nun jedoch die Reformbereitschaft bremsen. Zusätzliche Anhebungen der Renten und Löhne, finanziert durch die unerwarteten Ölerlöse, würden die russische Wirtschaft und den Staatshaushalt noch stärker der Gnade der Ölpreisbewegung aussetzen.
Finanzminister Alexei Kudrin warnte kürzlich davor, dass diese Politik der ewig steigenden Staatsausgaben beendet und der Spielraum für öffentliche Investitionen erweitert werden müssten, wenn die Regierung ihre Zielsetzung ernst nähme. Im selben Atemzug kritisierte er das mangelhafte Geschäftsumfeld und den Mangel an politischer Freiheit – zwei andere tiefgreifende russische Schwächen, die eine umfassende Modernisierung behindern. Vor allem der beklagenswerte Zustand des Geschäftsklimas behindert jeden Versuch der russischen Regierung, die Wirtschaft zu modernisieren. Denn dies schreckt die dringend benötigten Auslandsinvestitionen im Land ab.
Im Gegensatz zu vielen anderen Schwellenländern muss sich Russland nicht mit starken Kapitalzuflüssen beschäftigen. Im Gegenteil: Die regelmäßigen und umfangreichen Kapitalabflüsse sind Zeichen eines geringen Vertrauens in die langfristige wirtschaftliche Entwicklung Russlands – nicht nur auf Seiten ausländischer Investoren, sondern auch der heimischen Unternehmer, die ihr Kapital außer Landes bringen. Aber trotz einiger vieldiskutierter Fälle staatlicher Einflussnahme haben ausländische Investoren mit ihren Projekten in Russland zumeist hohe Gewinne erzielt – als angemessene Kompensation für das hohe Risiko.
Auf der politischen Bühne ist die aktuelle Preisfrage, wer zu den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr antreten wird: Ministerpräsident Putin oder der derzeitige Präsident Medwedew? Die meisten Auguren sehen Putin als den letztlich entscheidenden Mann. Beide bilden weiterhin ein widersprüchliches Tandem, bei dem Putin jüngst die alliierten Luftangriffe auf Libyen kritisierte und Medwedew die scharfen Worte seines Ministerpräsidenten anschließend rügte.
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