Die Experten auf dem diesjährigen Coface-Kongress in Mainz um DIW-Präsident Marcel Fratzscher bescheinigen der hiesigen Volkswirtschaft alle Voraussetzungen, um sich selbst wieder nach oben zu katapultieren. Die amtierende Ampel-Regierung wird dabei eher als Hindernis denn Beschleuniger angesehen – und die weltweiten Risiken sind längst multipel geworden. Das macht deren Kalkulation nicht einfacher.

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Die deutsche Wirtschaft ist nicht krank, sie hat aber einen länger anhaltenden Schnupfen. So in etwa lässt sich die einhellige Diagnose der Expertinnen und Experten auf dem diesjährigen Coface-Kongress zusammenfassen. Bei der Schwere der Erkältung gab es dann aber doch teils deutlich voneinander abweichende Meinungen – genau wie bei den Therapieansätzen. Und Obacht: Selbst ein leichter Schnupfen kann sich bei schlechter Genese noch zu einer veritablen Lungenentzündung entwickeln – mit unabsehbaren Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft.

Doch so weit – daran ließen die Protagonisten auf dem diesjährigen Branchen-Event des Kreditversicherers Coface unter der Headline „Quo vadis, Deutschland“ keinerlei Zweifel – ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt noch lange nicht, auch wenn die Wirtschaftsweisen just am Tag vorher ihre Wachstumsprognosen für dieses und nächstes Jahr noch einmal gesenkt haben. „Deutschland ist nicht der kranke Mann Europas. Wir reden schließlich nicht über eine Rezession, sondern eine Stagnation mit hohen Beschäftigungszahlen und noch relativ geringen Unternehmensinsolvenzen“, sagte Professor Marcel Fratzscher vor mehreren Hundert Gästen in der Halle 45 in Mainz und weiteren Zuhörenden an den Monitoren. Was dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) vielmehr Sorgen macht, ist die mittelfristige Perspektive.

Drei Transformationen auf einmal

Deutschland müsse, so Fratzscher, unmittelbar nach der Corona-Pandemie und der Energiekrise gleich drei große Transformationen auf einmal bewerkstelligen: eine in Bezug auf die Globalisierung und Diversifizierung der Lieferketten, eine in der digitalen und ökologischen Kreislaufwirtschaft sowie eine im sozialen Bereich. „Die soziale Transformation ist für mich die schwierigste. Viele Menschen in diesem Land sind frustriert und enttäuscht. Entscheidend wird sein, wie wir soziale Akzeptanz für Veränderungen schaffen“, erklärte Fratzscher. Ein Manko in Deutschland sei neben der überbordenden Bürokratie der große Mangel an Arbeits- und Fachkräften.

Größtes Potenzial sei hier die Erwerbstätigkeit von Frauen. Dazu passte eine Tagesmeldung vom Statistischen Bundesamt, wonach die sog. Stille Reserve 2023 auf 3,2 Millionen Menschen gestiegen ist. Davon sind 57% weiblich. Fratzscher sprach sich zudem für höhere staatliche Investitionen, ein Mehr an Europa und eine Abkehr vom Trend der Deglobalisierung aus. „Unser Wirtschaftsmodell beruht auf der Offenheit. Sie war und ist der Schlüssel für den wirtschaftlichen Erfolg und den großen materiellen Wohlstand, den wir heute in Deutschland genießen. Das Problem ist nicht die Abhängigkeit dieses Wirtschaftsmodells per se, sondern die Asymmetrie der Abhängigkeit von anderen Volkswirtschaften, allen voran den USA und China.“

Prof. Dr. Marcel Fratzscher. © Coface, Yves Ottenbach

Dass die Europäische Union in der Welt oftmals nur wahrgenommen wird, wenn sie mit einer Stimme spricht, wurde auch bei der folgenden Podiumsdiskussion deutlich: Neben Fratzscher gaben Marc Böttger, Geschäftsführer des großen deutschen Mittelständlers Profine, Dr. Karoline Kampermann, Abteilungsleiterin Wirtschaftspolitik, Außenwirtschaft, Mittelstand & Steuern beim Verband der Automobilindustrie, KI-Expertin Dr. Feiyu Xu und Soziologieprofessor Armin Nassehi Einblick in das, was sie mit Blick auf das deutsche Geschäftsmodell bewegt. „Deutschland hat eine exzellente Ingenieur-Kultur, hängt aber bei Software und KI weit zurück“, sagte etwa Xu und brachte so einige launige Beispiele.

Das politische Risiko

„Wir haben hierzulande viel Eigentümerführung und langfristiges Denken. Eigentlich ist das ideal für viele Innovationen“, bemerkte Böttger. Doch die Rahmenbedingungen passten nicht. Der Unternehmenslenker führte bei seiner Fundamentalkritik allen voran den Wohnungssektor an. „Die Bundesregierung hat es sich zum Ziel gesetzt, 400.000 Wohnungen pro Jahr zu bauen. Nach dem Ukraine-Krieg ist die Zahl der fehlenden Wohnungen auf über 700.000 angestiegen. Tatsächlich wurden im vergangenen Jahr nicht viel mehr als 200.000 neu genehmigt.“ Soziologieprofessor Nassehi unterstrich, dass man zurzeit permanent mit Ausnahmesituationen umgehen müsse und gleichzeitig eine Regierung habe, die unter Druck geraten sei. „Das hat zu einem Vertrauensverlust geführt. Obwohl wir eines der stabilsten Systeme auf der Welt haben, bekommen wir keine Aufbruchstimmung hin.“

Ein politisches Risiko geht indessen in diesem Jahr von vielen Ländern aus. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung wählt 2024 neue Parlamente, neue Präsidenten oder beides. Den größten Effekt auf die hiesige Wirtschaft dürften die Wahlen in den USA im November haben.

Die Kalkulation von neuen Risiken

Die Risiken sind unterdessen längst multipel geworden: stockende Lieferketten, höhere Zinsen und eine steigende Zahl an Naturkatastrophen. „Wir müssen Risiken heute ganz anders denken: vielschichtiger und volatiler. Die Gefahren kommen teilweise aus völlig anderen Richtungen als noch vor einigen Jahren, wenn wir etwa an Cyberangriffe denken“, sagte Jochen Böhm, Regional Risk Underwriting Director bei Coface, in einer der drei Break Out Sessions. Der Mainzer Kreditversicherer hatte dafür eigens drei aufblasbare Cubes bereitgestellt. Während die Coface-Verantwortlichen Claudia Haas, Ralph Cohausz und Jochen Böhm Einblicke in die Risikopraxis und Marktexpertise gaben, ging es in einem anderen Cube um die Kalkulation von Risiken in Zeiten multipler Krisen. „Der entscheidende Punkt ist, dass wir natürlich ruhig immer das Beste hoffen können, uns aber aufs Schlimmste vorbereiten sollten“, erklärte Moderator Martin Brückner, Geschäftsführer von Märkte Weltweit Medien, zu dem auch der „ExportManager“ gehört.

Resiliente ukrainische Wirtschaft

Das dritte Panel nahm sich schließlich der Brennpunkte im Osten an. „Die Ukraine befindet sich im Krieg. Doch die Wirtschaft dort ist erstaunlich resilient und der Wiederaufbau bietet auch deutschen Unternehmen viele Chancen“, sagte etwa Achim Haug, Bereichsleiter bei Germany Trade & Invest (GTAI). Nicola Lohrey begleitet als Verantwortliche von Rödl & Partner von Frankreich aus Unternehmen bei der Expansion ins Ausland, allen voran auf der Arabischen Halbinsel. „Die Fehler sind häufig die gleichen – nämlich, dass man zu schnell in den Markt hineingeht.“ Aufgrund ihrer Stabilität empfahl sie in der aktuellen Situation im Nahen Osten die Vereinigten Arabischen Emiraten für eine Niederlassung in dieser Region.

Coface-Experten Ralph Cohausz (links) und Jochen Böhm © Coface, Yves Ottenbach

Das große Ganze nahm auf dem Kongress Coface-Volkswirtin Christiane von Berg in den Blick. „Die Renditen der Staatsanleihen sind etwa auf dem Niveau der Finanzkrise 2009. Das ist ein Problem für alle, die bald Liquidität benötigen“, sagte von Berg. Auch die Zahl der Insolvenzen sei zuletzt stark gestiegen, auch wenn es keine Welle gebe. „Jetzt müssen wir uns an den neuen Status quo gewöhnen.“ Anders verhält es sich bei den Frachtkosten für Container. „Diese waren zu Covid-Zeiten deutlich höher. Nun gibt es zwar auch wieder einen Anstieg, der aber ist begrenzt, auch wenn viele Schiffe wegen der Angriffe der Huthi-Rebellen den Umweg über das Kap der Guten Hoffnung nehmen.“ Ein gutes Omen? Christiane von Berg war jedenfalls wie andere auch bemüht, trotz der schwierigen Gemengelage ein wenig Zuversicht zu verbreiten.

„Die einzige Sicherheit, die wir haben, ist doch die, überrascht zu werden.“

So auch Katarzyna Kompowska, CEO bei Coface Northern Europe Region, die zur Kongresseröffnung sagte, dass „wir in den letzten Jahren zwei schwere Krisen erlebt haben, die uns wirtschaftlich noch lange begleiten werden“. Doch die europäische und globale Wirtschaft hätten sich zuletzt widerstandsfähiger gezeigt als befürchtet. „Die Inflation ist bald überwunden, die Lieferketten funktionieren wieder mehr oder weniger normal.“ Andere Risiken auf der Welt indessen blieben hoch. „Die einzige Sicherheit, die wir haben“, erklärte Kompowska, „ist doch die, überrascht zu werden.“ Oder, wie es in der Halle 45 in Mainz ebenfalls häufig zu hören war: Wechsel von Just-in-Time zu Just-in-Case. Für resilientere Lieferketten. Und für ruhigere Nächte.

Fast 40% mehr Insolvenzen in Mittel- und Osteuropa

Im Zuge des wirtschaftlichen Abschwungs und auslaufender Staatshilfen ist die Zahl der Insolvenzen in mittel- und osteuropäischen Ländern im Jahr 2023 um 38,6% im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. In neun Ländern, darunter Estland, Polen und Ungarn, stieg die Zahl der Firmenpleiten, während sie lediglich in Bulgarien, Kroatien und Lettland sank. Das durchschnittliche BIP-Wachstum in Mittel- und Osteuropa (MOE) sank von 4,0% im Jahr 2022 auf nur noch 0,5% im Jahr 2023.

Es ist das zweite Jahr in Folge, in dem die Insolvenzen in der MOE-Region um knapp 40% angestiegen sind. Bereits 2022 gab es 39,3% mehr Insolvenzen gegenüber dem Vorjahr. In absoluten Zahlen bedeutete dies einen Anstieg von 36.208 (2022) auf 50.199 Insolvenzen im vergangenen Jahr. „Dieser Anstieg ist auf eine Kombination interner und externer Faktoren zurückzuführen, die die Herausforderungen für die Unternehmen in der Region verschärft haben. Insbesondere geopolitische Spannungen und der Inflationsdruck brachten die Unternehmen in unruhiges Fahrwasser“, sagt Grzegorz Sielewicz, Volkswirt für Mittel- und Osteuropa bei Coface.

Die Folgen des anhaltenden Kriegs in der Ukraine waren nicht zuletzt aufgrund der geografischen Nähe in der gesamten Region zu spüren und führten unter anderem zu Unterbrechungen von Lieferketten und einem Anstieg der Energiepreise, speziell in der ersten Jahreshälfte 2023. Auch die Konjunkturschwäche des Euro-Raums machte sich bemerkbar. Diese externen Schocks in Verbindung mit internen Herausforderungen wie Arbeitskräftemangel und hohen Produktionskosten haben die Unternehmen stark belastet und letztlich zu einem deutlichen Anstieg der Insolvenzen geführt. Quelle: Coface

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