Die Politik hat mit der Bankenunion und der Kapitalmarktunion zwei ehrgeizige Projekte aufgegleist. Während das eine fast fertig ist, aber kaum funktioniert, ist das andere noch Stückwerk – und wird dringend gebraucht. Auch der deutsche Mittelstand hängt am Erfolg eines einheitlichen Finanzierungsmarkts.

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Es klingt wie ein Schlaraffenland: In ganz Europa können sich deutsche Mittelständler in den Kapitalregalen bedienen. Langfristige Kredite aus Spanien, Betriebsmittellinien aus Belgien, Schuldscheine aus Italien, Anleihebegebung in Frankreich und Börsengang in Amsterdam – und das alles so einfach wie in Frankfurt, München oder Düsseldorf; nur noch besser, weil mehr Kapital und eine spezialisiertere Investorenbasis angezapft werden können.

Das ungefähr ist die Idee hinter den beiden europäischen Großprojekten Bankenunion und Kapitalmarktunion. Beide wurden als Antwort auf die Finanz- und Schuldenkrise etwa zeitgleich gestartet, sind dem Charakter nach aber vollkommen unterschiedlich: Die Bankenunion ist ein streng durchgetaktetes und im Kern regulatorisches Unterfangen, bei dem alle Schritte sorgfältig aufeinander abgestimmt sein müssen. Die Kapitalmarkt-union dagegen ist ein etwas diffuses Ziel, das mit einem ganzen Bündel an oft kaum miteinander zusammenhängenden Maßnahmen erreicht werden soll – auch weil die europäische Regulierungskompetenz hier fehlt.

Wo stehen wir heute? In der Finanz-Community gibt es seit Jahren harsche Kritik am langsamen Fortschreiten der beiden Projekte. Das ist nicht ganz gerecht. Politische Prozesse auf europäischer Ebene sind immer zäh – und daran gemessen wurde bereits eine ganze Menge erreicht.

Die Bankenunion steht – aber sie lebt nicht

Die Bankenunion steht – bis auf die dritte Säule, die viel diskutierte Einlagensicherung. Auch hierfür wird sich vermutlich in den kommenden Jahren eine Kompromisslösung finden. Im Prinzip steht einem gesamteuropäischen Bankenmarkt also nichts mehr im Wege.

Das Problem ist nur: In der Praxis deutscher Unternehmen ist das noch überhaupt nicht angekommen. Zwar sind Auslandsbanken hierzulande aktuell im Firmenkundengeschäft aktiver als vor zehn Jahren, doch die meisten neuen Häuser kommen nicht aus der EU, sondern aus Amerika und Asien. In den Bilanzen deutscher Mittelständler findet sich vielleicht hier und dort die eine oder andere französische, spanische (oder auch englische) Großbank, ein Trend ist aber nicht erkennbar. Mit anderen Worten: Die Möglichkeiten der Bankenunion werden vom Markt noch nicht genutzt.

Woran liegt das? Die Bankenunion ist eine Lösung für ein aktuell nicht drängendes Problem. Finanzierung und sonstige Bankdienstleistungen sind für deutsche Unternehmen reichlich, in guter Qualität und zu akzeptablen Preisen verfügbar. Keine europäische Bank kann aktuell im deutschen Firmenkundengeschäft in eine echte Lücke stoßen. Die Margen sind im internationalen Vergleich nicht besonders attraktiv, die Kunden hohe Standards gewohnt und ihren Banken oft treu. Da überlegt man sich einen Markteintritt reiflich.

Außerdem hat die Bankenunion zwar viele Befürworter in Politik, Wirtschaft und Finanzen. Sie hat aber auch Kritiker – und es gibt eine Vielzahl potenzieller Verlierer. Der explizite Wunsch der Politik ist die Schaffung starker und großer europäischer Banken, die den Vergleich mit dem amerikanischen und chinesischen Wettbewerb nicht zu scheuen brauchen. Vielleicht ein Dutzend Großbanken kann die Chancen eines paneuropäischen Marktes wirklich nutzen – dem stehen viele Tausend kleinere Banken gegenüber, die potenziell Geschäft verlieren. Deren Beifall für die europäische Bankenunion ist verhalten, die Suche nach bürokratischen Schlupflöchern verständlich.

Dass die Bankenunion noch keinen wahrhaft paneuropäischen Bankenmarkt produziert hat, liegt aber auch an den Banken selbst. Sie hatten seit der Finanz- und Schuldenkrise einige Aufräumarbeiten zu leisten. An massive internationale Expansion oder gar an die Übernahme europäischer Wettbewerber war kaum zu denken. Außerdem: „Politik und Aufsicht haben in den allermeisten Fällen versucht, nationale Käufer für wichtige Banken zu finden“, sagt Jan Schildbach von Deutsche Bank Research. Der Analyst sieht aber eine Trendwende: „Ich erwarte in Zukunft mehr grenzüberschreitende M&A-Aktivitäten im Bankensektor, weil die Baustellen zum größten Teil beseitigt sind.“ Wenn diese Annahme Realität wird, könnte die nächste Etappe auf dem Weg zu einer wirklich gelebten Bankenunion in Siebenmeilenstiefeln zurückgelegt werden.

Die Kapitalmarktunion wird gebraucht

Dringender als ein Erfolg der Bankenunion ist ein leistungsfähiger Kapitalmarkt. Die Kapitalmarktunion soll einen großen Wettbewerbsnachteil Europas in der Welt ausgleichen. In China steht der Staat als Finanzier von Innovation und Expansion bereit. Und in den USA laufen etwa 60% der Unternehmensfinanzierung über den Kapitalmarkt, in Europa dagegen nur etwa 20%. Immerhin: „Am aktuellen Rand sehen wir Dynamik“ sagt Analyst Schildbach. „Der Kapitalmarkt wird für den größeren Mittelstand immer wichtiger.“

Das muss aber nicht immer der heimische Markt sein, auf der Eigenkapitalseite entscheiden sich immer noch viele Tech-Unternehmen für ein Börsenlisting in den USA. Der wahre Konkurrent ist allerdings viel näher: „Wir als EU haben London als Finanzzentrum verloren und brauchen dringend ein Gegengewicht auf dem Kontinent“, sagt Schildbach. Seiner Beobachtung nach strebt London danach, bestimmte bisher geltende EU-Standards zu lockern, um sich damit Wettbewerbsvorteile zu verschaffen und auch für außereuropäische Investoren attraktiver zu werden. Der größte Finanzplatz Europas liegt mittlerweile außerhalb der EU – ein Grund mehr, die Märkte zu harmonisieren und zu einer Einheit zusammenzufügen. Aktuell behindern immer noch unterschiedliche Insolvenz-, Wertpapier- und Verbraucherregeln für 27 nationale Teilmärkte die Entfaltung der Marktkräfte.

Dabei wäre ein breiter und tiefer europäischer Kapitalmarkt dringend notwendig. Durch die Digitalisierung und das Megathema Nachhaltigkeit steigt nämlich der Finanzierungsbedarf. „Im Kampf gegen den Klimawandel muss Europa eine zusätzliche Finanzierungslücke von 350 Mrd EUR füllen – und zwar pro Jahr über mindestens zehn Jahre“, schrieben unlängst die Chefs der Deutschen Bank und der Europäischen Investitionsbank (EIB) in einem gemeinsamen Beitrag. Christian Sewing und Werner Hoyer konstatierten außerdem: „Das Fehlen eines wettbewerbsfähigen Kapitalmarkts droht die ambitionierten Klimaziele der Europäer zu gefährden.“

Wenn das Geld über den Kapitalmarkt nicht mobilisiert werden kann, trifft das auch den deutschen Mittelstand: Dabei geht es gar nicht im Kern darum, ob kleine und größere Mittelständler sich selbst einfacher, passgenauer oder günstiger finanzieren könnten. Viel wichtiger ist, dass die großen Umbauprojekte eine Finanzierung finden, für die der Mittelstand als Zulieferer oder Dienstleister Aufträge erhält.

Finanzierungsvorteile für den Mittelstand selbst könnte eine Renaissance der Verbriefungen bringen, über die Banken ihre Risiken aus Mittelstandskrediten an Investoren weitergeben. Das Instrument ist als Mitauslöser der Finanzkrise in Verruf geraten, grundsätzlich aber sehr sinnvoll. Allerdings: „Die Anforderungen an Verbriefungen sind immer noch zu streng, um diese Finanzierungsquelle umfänglich erschließen zu können“, sagt Schildbach.

Der Zug muss Fahrt aufnehmen

Durch Corona waren beide Projekte in den Hintergrund gerückt. Strategisch sind aber sowohl die Banken- als auch die Kapitalmarktunion von großer Bedeutung für Europa. Das ist nicht nur der Politik, sondern auch der Wirtschaft und der Finanzwelt bewusst. Der nachhaltige ökonomische Erfolg des deutschen Mittelstands hängt auch davon ab, dass in Europa ein einheitlicher, effizienter und leistungsfähiger Markt für Unternehmensfinanzierungen in all seinen Spielarten entsteht.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Bank. Diesen und weitere Beiträge finden Sie HIER

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