Während schon eifrig das Totenglöckchen der Globalisierung geläutet und eine Regionalisierung erwartet wird, sollten die Fakten nicht ganz außer Acht gelassen werden. Die Globalisierung wird sich ändern, aber nicht enden. Dass Europa die weitere Entwicklung mitgestaltet, ist allerdings nicht garantiert.
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Alles sieht nach einem perfekten Sturm aus für die Globalisierung: Wachsender Nationalismus trifft auf Automatisierung trifft auf Lieferkettenausfälle trifft auf Reisestopp trifft auf Nachfrageloch in der Corona-Krise. Und zu allem Überfluss ist das wichtigste Organ der Globalisierung, die Welthandelsorganisation (WTO), seit Anfang September 2020 führungslos. Die Kritik kulminiert: Der soziale Preis der Arbeitsplatzverlagerung wird den Industriestaaten zu hoch, und nun ist auch die Abhängigkeit von anderen Ländern selbst in sensiblen Bereichen offenkundig geworden. Darum stehen in vielen Ländern die komplexen, globalen Wertschöpfungsketten auf dem Prüfstand; der Protektionismus findet neue Nahrung.
Vielen scheint klar, wohin die Reise geht: Der bisherige Hegemon USA zieht sich immer weiter zurück; Regionalmächte kämpfen um die Vorherrschaft; globale Handelsregime wie die WTO werden durch regionale wie das Shanghai Cooperation Agreement oder die Hanse 2.0 ersetzt. Die Welt zerfällt in Regionen. Deutschland (und Europa) holen die Produktion sensibler und höherwertiger Produkte zurück. Das wird zwar teuer, der Preisschock durch das höhere Lohnniveau in Europa wird aber durch den Aufbau von Billigstandorten in Südosteuropa und Nordafrika sowie Fortschritte in Robotik und Automatisierung abgefedert. In absehbarer Zeit werden Maschinen sowieso günstiger sein als asiatische Näherinnen.
Der China-Faktor
Klingt logisch, ist aber einseitig: Diese als Realismus verkappte Regionalisierungsdebatte spiegelt die Sichtweise einer saturierten und skeptischen Gesellschaft im Verteidigungsmodus. Der Welthandel wird jedoch künftig von einem anderen Geist getrieben: von wachsenden, hungrigen Volkswirtschaften und einer aufstrebenden Weltmacht, die ihr Terrain neu absteckt. China wird sich keinesfalls mit einer regionalen Rolle zufriedengeben – und hat längst globale Tatsachen geschaffen.
Das Reich der Mitte hat nicht nur seinen Einfluss und die Handelsverbindungen im südostasiatischen Raum gestärkt. China ist außerdem mittlerweile Afrikas größter Handelspartner, obwohl der Kontinent vor der Haustür Europas liegt und lange von Europa beherrscht wurde. Und der chinesische Einfluss beschränkt sich nicht auf den Handel: Seit 2005 haben die Asiaten mehr als 2 Bill USD in Afrika investiert, darunter in viele Infrastrukturprojekte, die den internationalen Handel erleichtern.
Auch im „Hinterhof“ der USA, in Lateinamerika, ist China bereits der zweitgrößte Handelspartner. Der Kapitalbestand an Direktinvestitionen ist von 2005 bis 2019 von 4,2 Mrd USD auf 175,5 Mrd USD gestiegen. Und im traditionell mit Russland umkämpften Einflussgebiet in Zentralasien schafft die Neue Seidenstraße immer mehr Verzahnung. Im Rahmen der mittlerweile globalen „One Belt, One Road“-Initiative baut China seine Handelsverbindungen in knapp 70 Länder aus. Bis 2040 sollen insgesamt rund 21 Bill USD investiert werden.
China sieht sich in der Globalisierung als Mittelpunkt und als Fabrik der Welt, nicht mehr als verlängerte Werkbank und auch nicht als Absatzmarkt für die Industriestaaten. Das Land beansprucht den Status einer Weltmacht – und will nicht abhängig sein. So sehr China den Zugang zu anderen Ländern fördert und fordert, so sehr grenzt es sich ab. 38 Handelsbarrieren zählte die EU Ende 2019. Im vergangenen Jahr sind vier neue hinzugekommen, die EU-Exporte im Wert von mehr als 15 Mrd EUR betreffen.
Europa wird sich schwertun, diese Barrieren abzubauen. Denn der Kontinent verliert global an Bedeutung, die Handelsflüsse werden schmaler. Beispiel Afrika, das einige der wachstumsstärksten Länder der Welt umfasst: In den vergangenen Jahren hat Afrika seinen Handel außer mit China vor allem mit Ländern wie Thailand, Indonesien, der Türkei und Russland ausgebaut. Beispiel Lateinamerika: Der Exportanteil Europas und Zentralasiens ist dort innerhalb eines Jahrzehnts um annähernd 23 Prozent zurückgegangen; der Anteil Ostasiens am Export hat sich in der Zeit fast verdoppelt. Beim Import konnte nur Ostasien seine Stellung deutlich ausbauen, Europa hat den Anschluss längst verloren. So nahm die relative Bedeutung Europas bei Im- und Exporten nur in Ostasien (also vor allem: China) und Nordamerika zu. Die Gewichte verschieben sich schon lange gen Osten.
Chinas Handelswege werden immer länger
Dabei hat Europa viel zu verlieren. 197 Mrd EUR betrug der Handelsbilanzüberschuss der Europäischen Union im Jahr 2019. Für mehr als 4 Bill EUR wurden Waren ein- und ausgeführt, die Exportquote lag bei gut 15%. Doch das Heft des Handelns hat Europa aus der Hand gegeben. Die USA und China führen nicht nur eine geostrategische Auseinandersetzung, sondern haben auch unterschiedliche Vorstellungen davon, wie der globale Handel zu organisieren ist.
Wenn sich beide – was eine echte Gefahr ist – nicht auf ein gemeinsames Regime einigen können, wird wie so oft in der Geschichte das Recht des Stärkeren gelten. Regionalmächte wie Russland, Brasilien oder die Türkei betrachten Handel ebenfalls eher als Machtfrage. Europa dagegen hat ein großes Interesse an einem regelbasierten Handel, wie er im WTO-Regime stattfindet. Allein: Europa wird nicht gefragt. Und gehört werden wird es nur, wenn es endlich mit einer Stimme spricht.
Masken- und Impfstoffdiplomatie
Das zeigt sich auch in der Pandemie. Auch wenn Chinas Handelsvolumina im Frühjahr 2020 – auf dem Höhepunkt der Epidemie in der Volksrepublik – weltweit massiv eingebrochen sind, könnte die Corona-Krise die Stellung des Landes sogar noch festigen. Und während Europa und die USA mit sich beschäftigt waren, konnte China mit dem Versand von medizinischen Hilfsgütern seine Position in Lateinamerika, dem traditionellen Einflussgebiet der USA, ausbauen.
Nabelschau im Westen
Längst nicht alles gelingt China dabei. Die „Maskendiplomatie“ ist zumindest in Europa zum Eigentor geworden, weil die Produktqualität mangelhaft war. Und zu den chinesischen Impfstoffen gegen Covid-19 fehlen bislang verlässliche Angaben zur Wirksamkeit. In Afrika regt sich zudem Widerstand gegen die Abhängigkeit von China: Viele Staaten haben Infrastrukturprojekte mit chinesischen Krediten finanziert, sehen aber wenig Vorteile für den eigenen Export darin. Es sei vor allem China, das von Häfen oder Bahnlinien profitiere.
Es gibt allerdings kaum Hinweise, dass Europa diese Risse für sich nutzen wird. Die EU hat zu Beginn der Corona-Pandemie wenig Zusammenhalt gezeigt, sondern auf Nationalstaatsebene unabgestimmte Einzelstrategien verfolgt. Und der Kontinent ist unentschlossen, ob er weiterhin auf das transatlantische Bündnis mit einem zunehmend in sich gekehrten Hegemon USA setzen oder sich näher an das autoritär regierte China binden soll.
Der Faktor Digitalisierung
Außerdem ist Europa strategisch schlecht positioniert. Seit Jahren verliert der globale Warenhandel an Bedeutung, dafür gewinnen Dienstleistungen und Daten an Gewicht. Anders als den USA ist es Europa bislang nicht gelungen, globale Digital-Champions aufzubauen. Auch Chinas Digitalkonzerne sind nicht weltweit etabliert, sondern vor allem in der Region stark – so wie es auch in Afrika und Lateinamerika teilweise eigene Amazon-Konkurrenten gibt. Die Corona-Pandemie hat gezeigt: Von Videokonferenzen über Homeschooling bis Telemedizin und Unterhaltung – die neuen Lösungen für die Zukunft der Wirtschaft kamen nicht aus Europa.
Sollte Macht künftig wieder eine wichtigere Rolle im Handel spielen, wird die EU das Nachsehen haben, weil die beiden großen Rivalen ebenso wie einige regionale Mächte dieses Spiel deutlich besser beherrschen. Europa in seiner heutigen Verfassung kann nur in einem regelbasierten Regime reüssieren. Falls der Welthandel nach Regeln abläuft, die den europäischen Werten widersprechen, kann Europa sich ausklinken. Die Welt globalisiert dann ohne Europa weiter. Wenn Europa die Chancen des Handels, der es einst zur Blüte brachte, weiterhin guten Gewissens nutzen will, muss es sich in einem zunehmend von Machtfragen dominierten Handelssystem als Einheit mit klarer Position und Vision präsentieren. Dann wird die (mit UK) größte Volkswirtschaft der Welt auch Gehör finden.
Der Beitrag erschien erstmals im Magazin „results. FinanzWissen für Unternehmen“, Ausgabe Herbst/Winter 2020. Autoren: Boris Karkowski und Bastian Frien. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Bank. Den Link finden Sie HIER.