Die Handelsbeziehungen zwischen der EU und der Schweiz bröckeln – speziell, seitdem die Eidgenossen 2021 das Rahmenabkommen zum Handel nicht unterschrieben haben. Seitdem gelten zwar weiterhin die bestehenden Abkommen, diese wurden aber schon länger nicht mehr aktualisiert. Das führte in den letzten Jahren zunehmend zu Problemen und zeigt sich besonders im Dienstleistungsbereich.

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Handelsbeziehungsstatus: Es ist kompliziert. So lässt sich das Wirrwarr aus Abkommen und Einzelverhandlungen zwischen der Europäischen Union und der Schweiz wohl am besten beschreiben. Bis heute gibt es über 120 bilaterale Abkommen, die von Dutzenden gemeinsamen Ausschüssen und Untergruppen verwaltet werden. Die Basis für den wirtschaftlichen Austausch bildet dabei das Freihandelsabkommen von 1972, das den freien Handel von Waren zwischen beiden Wirtschaftsräumen klärt.

Entgegen der Bezeichnung führte es nicht zu einem vollständigen Freihandel, sondern baute lediglich Handelshemmnisse ab. Die komplizierten Zollformalitäten wurden nicht abschließend reguliert. Zwischen den 1980ern und 90ern beteiligte sich die Schweizer Regierung am Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), beantragte sogar den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft (EG). Doch obwohl die Regierung den Vertrag bereits unterzeichnet hatte, wurde dieser Schritt in einem Referendum mit einer knappen Mehrheit von 50,3% der Stimmen im Dezember 1992 abgelehnt.

Ersatz für Nicht-EG-Beteiligung

Um die negativen Folgen der Nichtbeteiligung an der EG abzufedern, handelte die Schweizer Regierung mit der EU daher das Bilaterale Abkommen I aus. Es regelt den freien Handel landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die (Personen-)Freizügigkeit, den Luftverkehr, den freien Güter- und Personenverkehr auf Schienen und der Straße, das öffentliche Beschaffungswesen, die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen und die wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit.

Ein wichtiger Knackpunkt blieb, dass zwar Bürgerinnen und Bürger der EU und der Schweiz unter bestimmten Bedingungen den Arbeits- und Aufenthaltsort frei wählen können – jedoch gibt es flankierend dazu Maßnahmen zur Sicherung der Schweizer Lohn- und Arbeitsstandards. Zusätzlich beinhaltet der Vertrag die sog. Guillotinenklausel. Sie besagt, dass, wenn ein Teilabkommen wie z.B. die Personenfreizügigkeit gekündigt wird, automatisch das gesamte Abkommen aufgekündigt wird.

Bei allen Abkommen ist Dienstleistungshandel nicht inbegriffen

Das Bilaterale Abkommen I trat im Juni 2002 in Kraft. Die laufende Umsetzung der Vereinbarungen verpflichtet die Schweiz, die europäischen Rechtsvorschriften in den betroffenen Sektoren zu übernehmen. Ab 2005 kamen noch weitere Verträge (Bilaterale II) hinzu. Hierbei wurden neben vielen anderen Punkten u.a. die Schweiz in den Schengen-Raum aufgenommen, die Besteuerung von Zinserträgen geregelt, die Dublin-III-Verordnung (innere Sicherheit und Asyl) auch auf die Schweiz ausgedehnt und die Europäische Umweltagentur in der Schweiz anerkannt. Wichtig ist jedoch, dass bei all diesen Abkommen der Dienstleistungshandel nicht inbegriffen ist.

Die Abkommen zeigten schon ab Mitte der 1970er Jahre ihre Wirkung. Der Güterverkehr stieg steil an. Im Jahr 2021 war die EU mit 58% der wichtigste Handelspartner der Schweiz gemessen am Handelsvolumen. Weit abgeschlagen auf dem zweiten und dritten Rang lagen die USA (13%) und China (7%). Aus europäischer Sicht hingegen ist die Schweiz etwas weniger bedeutend und belegte mit 7% des Handelsvolumens den vierten Platz hinter China (16%), den USA (15%) und dem Vereinigten Königreich (10%).

Beim Dienstleistungshandel fällt auf, dass sich dieser zwischen 2000 und 2019 mehr als vervierfacht hat. Einen bedeutenden Teil der Schweizer Importe und Exporte stellen dabei Telekommunikations- und IT-Dienstleistungen dar. Die EU nimmt gern schweizerische Finanzdienstleistungen in Anspruch, während die Schweizer die spezialisierten, europäischen Beratungsdienstleistungen anfragen. All diese Bereiche kommen allerdings in den bilateralen Abkommen nicht vor.

Warum ist das Rahmenabkommen gescheitert?

Ein Rahmenabkommen (auch als Institutionelles Abkommen, InstA, bekannt) wurde vom Schweizer Parlament Mitte 2008 angeregt. Ziel war es, die bilateralen Einzelabkommen in einem Abkommen zusammenzufassen und zu aktualisieren. Die EU griff den Vorschlag auf und machte deutlich, dass die Schaffung eines breiter angelegten institutionellen Rahmens die Voraussetzung sei, um die bilateralen Beziehungen in der bisherigen Form weiterzuführen. Hierbei spielt die Osterweiterung der EU mit hinein. Um die „neuen“ EU-Länder nicht zu verprellen, vertritt die EU nunmehr den Standpunkt, dass für den privilegierten Zugang zum Binnenmarkt alle die gleichen Regeln und Pflichten respektieren.

Das bedeutet auch, dass ein gemeinsamer Mechanismus zur Beilegung eventueller Streitigkeiten über den Europäischen Gerichtshof (EuGH) gelten würde. Nach langjährigen Verhandlungen entschied sich der Schweizer Bundesrat (die Regierung) Ende 2018, das vermeintlich vollständig ausgehandelte Abkommen nicht zu unterzeichnen, sondern erst die innenpolitische Unterstützung für das Abkommen zu ermitteln.

Wahrung des hohen Lohn- und Arbeitnehmerschutzes als Streitpunkt

Üblicherweise braucht es die Unterstützung aller großen Parteien (mit Ausnahme der rechtskonservativen und europakritischen SVP), der Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und Kantone, um eine Volksmehrheit für eine EU-Vorlage zu erreichen. Diese Unterstützung war allerdings nicht gegeben. Neben der Ablehnung des EuGH als Streitschlichtungsmechanismus, der die Souveränität der Schweiz einschränken würde, war v.a. die Wahrung des hohen Lohn- und Arbeitnehmerschutzes in der Schweiz ein großer Streitpunkt – ebenso wie der mögliche Bezug Schweizer Sozialhilfe durch EU-Bürger.

Zusätzlich zeigte sich, dass die Bedeutung des freien Handels für die Schweizer Bevölkerung bereits deutlich abgenommen hat, bspw. stimmten im Herbst 2021 nur 52% für ein Freihandelsabkommen mit Indonesien. Die schweizerische Verhandlungsseite wollte vor diesem Hintergrund mit der EU nachverhandeln, was die EU allerdings ablehnte. Schlussendlich hat die Schweiz die Gespräche im Mai 2021 einseitig abgebrochen.

Rechtsunsicherheit nimmt zu

Seitdem hat die Rechtsunsicherheit in den Handelsbeziehungen erheblich zugenommen, da die kontinuierliche Weiterentwicklung des EU-Binnenmarktes immer komplexere Anpassungen der bilateralen Abkommen erfordert: Dies ist bereits spürbar im Bereich Medizintechnik, wo Konformitätsbewertungen nicht mehr gegenseitig anerkannt werden. Die Erbringung von Dienstleistungen in der Schweiz muss aktuell meist acht Kalendertage im Voraus angemeldet werden. Zudem ist 2021 ein Stromabkommen, das der Schweiz den Zutritt zum europäischen Strommarkt gestattet hätte, durch die Abkehr vom Rahmenabkommen nicht zustande gekommen. Darüber hinaus entzog Brüssel aus Frustration über die geringen Fortschritte bei den Verhandlungen bereits Mitte 2019 der Schweizer Börsenregulierung die Anerkennung als gleichwertig. Damit ist den Marktteilnehmern aus der EU der Aktienhandel an Schweizer Börsen verboten. Postwendend verbot Bern daraufhin den Handel von Schweizer Aktien in der EU.

Im März dieses Jahres ist wieder etwas Bewegung in die Beziehungspause zwischen der EU und der Schweiz gekommen. Der Schweizer Bundesrat hat das Außenministerium beauftragt, bis Ende Juni die Eckwerte eines Mandates für neue Verhandlungsgespräche auszuarbeiten. Die Regierung scheint dabei einen vertikalen (Paket-)Ansatz zu bevorzugen – also nur für einzelne Sektoren die Vorgaben der EU zuzulassen, statt ein Rahmenabkommen zu genehmigen. Damit gäbe es eine dynamische Rechtsübernahme, Streitbeilegung sowie Ausnahmen und Schutzklauseln, die in den einzelnen Binnenmarktabkommen verankert werden würden. Auch die EU ist verhandlungsbereit. Kommissionsvize Maroš Šefčovič sagte hierzu im März, er wolle bis zum Sommer 2024 eine Einigung über die institutionellen Fragen erzielen.

Verhandlungspositionen haben sich verschoben

Woher kommt der Sinneswandel? Da im politischen System der Schweiz letztendlich alles von der Zustimmung der Bevölkerung abhängt, sind Umfragedaten umso wichtiger. Hier zeigte sich Ende März 2023, in der ersten jährlichen Umfrage seit Beginn des Ukraine-Kriegs, dass eine klare Mehrheit von 59% in den aktuellen Handelsverträgen mit der EU hauptsächlich Vorteile sieht. Das ist ein leichter Anstieg gegenüber dem Vorjahr und ein Höchstwert seit Beginn der Umfrage 2015.

Generell wird aus der Umfrage klar, dass sich die Verhandlungsposition verschoben hat. 83% der Befragten meinen nunmehr, dass die Schweiz auf die EU angewiesen ist. Bei der Aufnahme neuer Verhandlungen wird die Schweizer Delegation daher Kompromisse eingehen müssen. Die Bereitschaft hierzu ist in der Bevölkerung seit der letzten Befragung Anfang 2022 zwar insgesamt etwas gesunken, allerdings gibt es nur bei einem Punkt ein klares Veto: Zwei Drittel der Befragten lehnen die Unionsbürgerschaft ab, speziell da dann EU-Bürgerinnen und -Bürger Anrecht auf schweizerische Sozialleistungen hätten. Bei der Frage, welches künftige Szenario eine Zustimmung hätte, liegt wie bereits häufig in der Vergangenheit der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum ganz vorne und erreicht mit 60% Zustimmung einen Höchstwert. Im Gegensatz zur EU konzentriert sich der EWR nur auf den Binnenmarkt und keine weiteren politischen Felder.

Zustimmung zu Aufkündigung der Bilateralen Abkommen gefallen

Während im vergangenen Jahr die Aufkündigung der Bilateralen Abkommen zugunsten eines umfassenden Freihandelsabkommens für Güter und Dienstleistungen noch deutlich vorne lag, ist die Zustimmung hierfür auf nur noch 45% gefallen. Ebenfalls bei 45% liegt die Billigung, den aktuellen Status quo sowie die Weiterentwicklung der Bilateralen Verträge trotz EU-Rechts beizubehalten. Weit abgeschlagen sind dagegen die Extreme EU-Beitritt (20% Zustimmung, höchster Wert seit dem Beginn der Umfrage) sowie Abschaffung der Bilateralen und Rückkehr zum WTO-Niveau (15%).

Im Februar haben drei Wirtschaftsinstitute aus Deutschland (IfW), Österreich (WIFO) und der Schweiz (IWP) eine Studie herausgebracht, die die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Entscheidungen ermittelt (vgl. Felbermayr, Gabriel; Heiland, Inga; Mosler, Martin; Schaltegger, Christoph (2023), Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU: Quantitative Bewertung unterschiedlicher Szenarien der zukünftigen Zusammenarbeit). Als wahrscheinlichstes Szenario erachten die Forscherinnen und Forscher ein Freihandelsabkommen nach CETA-Art (entsprechend dem Abkommen zwischen der EU und Kanada). Es würde zusätzlich zu den Bilateralen Abkommen I und II eingeführt und diese modernisieren. CETA enthält z.B. keine Klausel zur Personenfreizügigkeit. Durch ein solches Abkommen würden die Schweizer Gesamtexporte (8,3%) wie auch die Gesamtimporte (10%) spürbar zulegen und die aggregierte Wertschöpfung der Schweiz um 1,5% anheben sowie die Realeinkommen um 2,4% steigen lassen. Allen voran im landwirtschaftlichen Bereich, bei Lebensmitteln, in der Chemie-, Pharma-, Medizintechnik- und IT-Branche wären die Wertschöpfungsgewinne spürbar.

Erhebliche Abnahme des Außenhandels bei Drittstaaten-Regelung

Würden dagegen die Handelsbeziehungen der Schweiz mit der EU auf die Drittstaaten-Regelung der Welthandelsorganisation zurückfallen, dann würden sowohl die Schweizer Gesamtexporte (–9,3%) wie auch die Importe (–11,2%) erheblich abnehmen. Die Wertschöpfung der Schweizer Wirtschaft sollte um 1,6% geringer ausfallen und die Realeinkommen in der Schweiz um 2,6% fallen.

Bei einem hypothetischen EU-Beitritt würden durch die direkten Handelseffekte die Gesamtexporte um 21,6% zulegen und die Gesamtimporte um 24,7%. Die Wertschöpfung würde um 4% ansteigen und das Realeinkommen theoretisch um 7,2%. Hinzu kämen allerdings diverse andere Maßnahmen und Kosten, z.B. würde die Schweiz das Land mit dem höchsten Beitrag pro Kopf zum EU-Haushalt werden und die politischen Kosten der Integration in die EU wären erheblich.

Vier Varianten wahrscheinlich

Am Ende scheinen eher vier verschiedene Möglichkeiten wahrscheinlich: der EWR-Beitritt, ein Freihandelsabkommen, das Dienstleistungen enthält, ein vertikales Handelspaket für einzelne Branchen oder die Beibehaltung des aktuellen Status quo. In Anbetracht des schnellen technologischen Wandels, der immer stärker werdenden Bedeutung von Dienstleistungen sowie der geopolitischen Situation Europas erscheinen die ersten beiden Alternativen sinnvoll – auch da die Verträge sonst ständig angepasst werden müssten. Jedoch stimmt letztendlich die Schweizer Bevölkerung ab und die hatte in der Vergangenheit die eine oder andere Überraschung parat.

christiane.von-berg@coface.com

www.coface.de

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