Blüht uns ein weiteres Jahr voller Risiken und schlechter Nachrichten oder ist Besserung in Sicht? Der Versuch eines Ausblicks auf das Wirtschaftsjahr 2023 in Deutschland.
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In der volkswirtschaftlichen Statistik gibt es viele Ansätze, die Zukunft zu prognostizieren, wenn man keine neuen Anhaltspunkte hat. Eine Möglichkeit ist, dass die Wirtschaft zum langfristigen Durchschnitt zurückkehrt (getreu dem Motto: „Das haben wir immer schon so gemacht“); eine andere, dass sich die unmittelbare Vergangenheit einfach wiederholt. Wenn wir das letztgenannte Szenario auf die 2020er Jahre anwenden, dann blüht uns ein weiteres Jahr voller Risiken und schlechter Nachrichten – aber auch ungeahnter Kurswechsel, die die schlimmsten Auswirkungen abfedern. In diesem Sinne bleiben wir also bei der neuen 20er-Jahre-Tradition, dass Prognosen wenig Sinn ergeben, da sie kaum eintreffen, und sprechen stattdessen ein paar Möglichkeiten an, wie sich die Wirtschaft 2023 entwickeln könnte.
Konjunkturwinter 2022/23: Schwarzmalerei versus Faktenlage
Eine sich wiederholende Erkenntnis aus dem Jahr 2022 (wiederholend, da auch schon 2020 das Thema) ist, dass sich die Wirtschaft deutlich besser schlägt, als das viele Marktteilnehmer wahrhaben wollen. Wenn man auf die vergangenen Monate zurückblickt, stellt man fest, dass viele pessimistische Überlegungen, die unmittelbar nach dem Kriegsbeginn in der Ukraine angestellt wurden, erfreulicherweise nicht eingetroffen sind. Die Preise gingen zwar durch die Decke, der private Konsum brach aber nicht wie befürchtet ein.
Ganz im Gegenteil, er stieg sogar an – angetrieben von nachgeholten Hochzeiten, Partys und vielen, vielen Reisen. Russland liefert zwar kein Erdgas mehr nach Deutschland, aber die meisten Industriebetriebe produzierten auch zum Jahreswechsel 2022/23 noch. Wir haben bislang noch keinen Blackout erlebt und mussten auch noch nicht frieren. Darüber hinaus ging bisher keine neue Pandemiewelle in Deutschland um; und wir scheinen ohne Maskenpflicht sowie abgesagte Feiern und Konzerte durch den Winter zu kommen. So ist dann auch erklärbar, dass die deutsche Wirtschaft nach dem Beginn des Kriegs in der Ukraine immerhin noch ein ganzes halbes Jahr wachsen konnte und erst im vierten Quartal 2022 „nur“ stagnierte. Der angekündigte Konjunktureinbruch wurde ein ums andere Mal nach hinten verschoben.
Eher zu pessimistische Aussichten
Bleibt es so? Das ist wohl die Quizfrage des Jahres. Die Tatsache, dass sich die Schwarzmaler in den vergangenen Monaten immer wieder geirrt haben, hat mehrere Gründe. Zunächst einmal verkaufen sich schlechte Nachrichten, die leicht verständlich sind, besser als gute Nachrichten mit komplizierten Erklärungen. Ja, die Inflation drückt den privaten Konsum nach unten und es gibt viele Menschen, die sich ihre gewohnten Einkäufe nicht mehr leisten können. Aber: Wir kennen nicht die Anzahl oder die potenzielle Kaufkraft dieser Personen im Verhältnis zu der Gruppe, die noch immer gut konsumieren kann und wegen der Ersparnisse der letzten Jahre viel nachzuholen hat. Da es gesellschaftlich nicht gut ankommt, über große Anschaffungen in Zeiten von Knappheit zu sprechen, werden sich diese Personengruppen nicht öffentlich dazu äußern.
Das Konsumpotenzial ist also äußerst unklar – v.a., wenn es um Dienstleistungen geht, auf die man in den vergangenen Jahren verzichtet hat (z.B. der Skiurlaub, Fernreisen oder Geburtstags- und Hochzeitsfeiern). Auch Unternehmen und Verbände haben natürlich den Hang dazu, die Aussichten eher zu pessimistisch zu sehen als abzuwarten, was tatsächlich passiert.
Denn dann kann das Kind schon in den Brunnen gefallen sein. Unterm Strich blieben die Investitionstätigkeiten der Unternehmen im Jahr 2022 noch verhältnismäßig robust. Eine valide Annahme wäre dennoch, dass die überraschend dynamischen Wirtschaftszahlen nicht unbegrenzt anhalten können, sondern eine (wenn auch weniger drastische) Abkühlung der Wirtschaft über die verbleibenden Wintermonate bzw. das Frühjahr erfolgt.
Kommt das böse Erwachen noch?
Dies alles hängt davon ab, wie viel Energie in diesem Winter zu welchen Preisen verbraucht wird, wie stark die globale Nachfrage ist – z.B. durch die Öffnung Chinas – und wie sich das Kriegsgeschehen in der Ukraine weiter auf die Wirtschaft auswirkt. Beim Thema Energie scheint jedenfalls in diesem Winter die Gefahr von Rationierungen gebannt zu sein. In dieser Hinsicht könnte eher der nächste Herbst das böse Erwachen bringen, sollten Gegenmaßnahmen wie neue Energiequellen und Einsparungen nicht ausreichen. Denn dann würden wieder alle europäischen Länder um ein noch kleineres Angebot buhlen, da Russland dieses Mal von Beginn an aus dem Spiel ist.
Es ist schon erstaunlich, wie man sich an Risiken, die jedes für sich in früheren Zeiten die Menschen um den Schlaf gebracht hätten, gewöhnt. Aber genau das ist der Zustand in den 20er Jahren. Man lernt, mit der hohen Inflation zu leben. Die Preise werden erst einmal weiter steigen, aber in einer deutlich verringerten Geschwindigkeit, da der Staat einige Preisanstiege über Maßnahmen wie die Gaspreisbremse abfedert und sich die Energiepreise zum Jahresanfang erst einmal stabilisiert haben.
Staat und Zentralbanken: zwei Wege, um mit Inflation umzugehen
„Es ist schon erstaunlich, wie man sich an Risiken, die jedes für sich in früheren Zeiten die Menschen um den Schlaf gebracht hätten, gewöhnt. Aber genau das ist der Zustand in den 20er Jahren. Man lernt, mit der hohen Inflation zu leben. Die Preise werden erst einmal weiter steigen, aber in einer deutlich verringerten Geschwindigkeit, da der Staat einige Preisanstiege über Maßnahmen wie die Gaspreisbremse abfedert und sich die Energiepreise zum Jahresanfang erst einmal stabilisiert haben.“
Dies lässt dann mathematisch die Inflationsrate fallen, denn diese ist ja immer ein Vergleich zum Preisanstieg des Vorjahres. Schwierig dürfte es werden, wenn die erwarteten Knappheiten wirklich sichtbar werden, wenn sich also die Gasspeicher über das Jahr hinweg merklich leeren könnten. Zudem wachsen die Löhne dynamisch an, um die Kaufkraft zu erhalten. Dies stützt aber wiederum die Inflation. Bis sich diese beiden Waagschalen eingependelt haben, wird noch einige Zeit vergehen.
Befeuert wird das Ganze noch durch das Ausscheiden der Babyboomer aus dem Arbeitsmarkt. Mit ihnen geht eine Heerschar erfahrener, fleißiger und auch genügsamer Menschen in den Ruhestand, während die verbliebene, deutlich kleinere Arbeitnehmerschaft nun eine höhere Marktmacht hat. Das bedeutet, dass Forderungen nach mehr Lohn und/oder geringeren Arbeitszeiten und weiteren Extras viel eher umgesetzt werden können (wer kann es den jüngeren Generationen auch verdenken, die sichere Rente existiert schließlich nur noch in den Nostalgie-Shows). Damit bleibt uns das erhöhte Preisniveau noch eine längere Zeit erhalten.
Abkehr von Zero-Covid-Politik macht Lieferketten etwas beständiger
Wenn darüber hinaus die bestehenden Lieferkettenprobleme anhalten, wird es wirklich schwierig. Zumindest hier gibt es etwas Entspannung. Chinas Aufgabe der Zero-Covid-Politik sollte die Lieferketten etwas beständiger machen, obwohl die neue Covid-Welle im Land ebenfalls Logistikprobleme mit sich bringt – ganz abgesehen von den humanitären Problemen. Ab Sommer sollte sich die chinesische Wirtschaft aber erholen, was dann wieder zu einer stärkeren Nachfrage nach Rohstoffen und damit höheren Preisen hierfür führen könnte.
Der Staat ist seit einigen Jahren im Dauereinsatz. Es gilt die Devise: „Nach der Krise ist vor der Krise.“ Hierbei ist es beachtlich, dass die Politik in Deutschland zwar nicht immer die schnellste ist, in puncto Maßnahmen aber relativ gut eine pragmatische Politik umsetzt, die gerade im Falle der Grünen und in Teilen der FDP häufig gegen die eigentliche Partei-DNA geht.
Oder hätte jemand vor einem Jahr erwartet, dass Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) eine Verlängerung der Atomkraft mitträgt oder dass Finanzminister Christian Lindner (FDP) bekannt dafür wird, neue Worte fürs Schuldenmachen zu erfinden? Die staatliche Hilfe bleibt in den 20er Jahren somit eine tragende Säule der Wirtschaft. Beim aktuellen Verschuldungsstand ist das noch eine nachhaltige Strategie. Schwierig wird es allerdings, wenn die kommenden Jahre weiterhin Krisenjahre werden. Denn letztlich verlässt sich ja ganz Europa auf die Haushaltsdisziplin der Deutschen.
Stärkste Zinsschritte in der Historie
Auch die Europäische Zentralbank (EZB) hat jetzt alle Hände voll zu tun. War sie in den letzten 15 Jahren auf einem expansiven Kurs, so musste sie praktisch im Schnellverfahren erst vom geldpolitischen Gas gehen, dann bremsen und schließlich den Rückwärtsgang einlegen. So viele und große Zinsschritte gab es noch nie in ihrer Geschichte. Es wäre hier allerdings ein Trugschluss zu glauben, die EZB möchte durch höhere Zinsen die aktuelle Wirtschaft im Euro-Raum bewusst ausbremsen, um die Inflation zu verringern. Dies ist auch ein Effekt, ganz klar – aber der EZB ist bewusst, dass die extrem hohe Inflation nicht von der starken Wirtschaftskraft getrieben ist, sondern von den äußeren Umständen.
Nein, das Augenmerk der EZB liegt darauf, ihre Glaubwürdigkeit an den Finanzmärkten nicht zu verspielen, um die langfristigen Inflationserwartungen im Zielbereich von 2% zu halten. Das, zusammen mit der Abwertung des Euro zum US-Dollar, die de facto einen Inflationsimport bedeutet, treibt die Währungshüter in Frankfurt an. 2023 sollte das Spiel in abgeschwächter Form weitergehen – abhängig von der tatsächlichen Konjunkturentwicklung, der Inflation und den Zinsausschlägen an den Finanzmärkten für überschuldete Euro-Raum-Länder.
Zahl der Insolvenzen gering
Die Geschichte des Insolvenzparadoxons hat sich im Jahr 2022 weiter fortgesetzt. Dieses beschreibt eine wirtschaftliche Situation, die eigentlich zu höheren Insolvenzen führen sollte, aber tatsächlich nur wenige Pleiten hervorbringt. Da die Statistiken nur mit erheblicher Verspätung veröffentlicht werden, kann man hier noch nicht für das gesamte Jahr sprechen. Aber die Zahlen für die Anmeldung von Regelinsolvenzzahlen, ein Frühindikator für die tatsächlichen Insolvenzzahlen, deuten keinen nennenswerten Anstieg der Insolvenzen für die Gesamtwirtschaft an. Klar, in einigen Branchen wie bspw. im Bau oder im verarbeitenden Gewerbe sind mehr Pleiten zu verzeichnen, aber die Gesamtwirtschaft hält sich wacker.
Zudem wurden bis zum Sommer keine besonderen Zahlungsprobleme in Umfragen festgestellt. Den Antworten nach warten zwar alle auf den großen Knall, aber gekommen ist er bisher eben nicht. In den beiden vergangenen Jahren war tatsächlich der springende Punkt bei den Insolvenzen, dass zwar die Anzahl zum Vorjahr jeweils sank, aber der entstandene Schaden gemessen an den Forderungen aus Insolvenzen (ermittelt vom Statistischen Bundesamt) stieg.
Es wurden also weniger, dafür aber größere Insolvenzen verzeichnet. Im vergangenen Jahr funktionierte auch diese Erklärung nicht. Während 2021 noch ein Gesamtschaden im Zeitraum von Januar bis Oktober von 46,3 Mrd EUR im Raum stand (das Gesamtjahr 2021 brachte insgesamt eine Rechnung von 48,3 Mrd EUR und war damit das teuerste Jahr seit 2009), wurden 2022 bis zum Herbstanfang nur 11,1 Mrd EUR als Schaden aus Insolvenzen aufgenommen. Es gilt hier zu bedenken, dass bis zum Juni 2022 noch die Pandemiehilfen gelaufen sind und auch im Sommer der Staat durch Stützungsmaßnahmen Verbrauchern und darüber auch Unternehmen geholfen hat. Ein Paradoxon bleibt es dennoch.
Die hohe Agilität der deutschen Wirtschaft
Zusammenfassend lässt sich schlussfolgern, dass die Zeiten so ungewiss sind wie in der Vergangenheit. Wer weiß, ob der Krieg in der Ukraine eskaliert oder es eher aus Ressourcenmangel zu neuen Verhandlungen kommt? Corona könnte auch mit einer neuen aggressiven Variante um die Ecke kommen oder China versuchen, Taiwan einzunehmen. Eindeutig ist allerdings, dass sich die deutsche Wirtschaft, wenn es hart auf hart kommt, doch agiler anpasst, als man es für möglich gehalten hat.
christiane.von-berg@coface.com