Im Wahljahr 2022 stellen die Brasilianer die Weichen für die kommenden Jahre. Dies hängt nicht nur von der Stichwahl um das Präsidentenamt zwischen Bolsonaro und Lula ab: Anfang Oktober hat Brasilien auch ein neues Parlament und Gouverneure der Einzelstaaten gewählt.

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Brasilien ist Deutschlands wichtigster Handelspartner in Südamerika. Im Jahr 2021 exportierten deutsche Unternehmen Waren im Wert von rund 10 Mrd Euro nach Brasilien, darunter v.a. chemische Erzeugnisse, Maschinen und Autos. Doch die politische Unsicherheit im Land lähmt Strukturreformen und verschreckt ausländische Investoren: Das Wahljahr 2022 war geprägt von polarisierenden Präsidentschaftskandidaten, allen voran der bisherige Präsident Jair Bolsonaro und Herausforderer Luiz Lula da Silva, der bereits von 2003 bis Ende 2010 als Präsident regierte.

Mit der Wahl sollte eigentlich endlich Ruhe einkehren und sich die Stimmung der Investoren wieder heben. Doch bis sich Brasilien wieder in ruhigem Fahrwasser befindet, dürfte es noch einige Zeit dauern. Die Brasilianer haben zwar Anfang Oktober gewählt; wer die Geschicke des fünftgrößten Landes der Welt aber künftig lenkt, steht noch nicht fest. Ende Oktober geht es in die finale Wahlrunde. Für das Parlament steht allerdings jetzt schon fest: Hier werden auch künftig viele Bolsonaro-Anhänger sitzen. Sollte Lula also die Stichwahl für sich entscheiden, dürfte ihn Bolsonaros Partei nicht so leicht gewähren lassen.

Bolsonaro hat viel verbrannte Erde hinterlassen und v.a. durch misslungenes Pandemiemanagement, eine kontroverse Haltung zu Klima- und Menschenrechtsfragen sowie eine enorm konservative Politik die Nachrichten bestimmt. Sollte Bolsonaro wiedergewählt werden, muss er seine Rhetorik ändern, damit ausländische Investoren die Attraktivität Brasiliens wiederentdecken. Doch auch Kontrahent Lula ist für Investoren nicht die erste Wahl: Er gilt vielen als zu links, v.a. den Brasilianern selbst. Insb. Unternehmer fürchten, dass eine Regierung unter Lula der progressiven Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre ein Ende bereiten könnte.

Positive Wirtschaftsentwicklung durch Rohstoffe und Reformen

Trotz politischer Unwägbarkeiten kann sich Brasiliens Wirtschaftsentwicklung sehen lassen. Das Land ist stabil und hat die Folgen der Corona-Pandemie überwunden. Das Bruttoinlandsprodukt legte im vergangenen Jahr um 4,6% zu. Die Arbeitslosigkeit lag laut dem brasilianischen Institut für Statistik IBGE mit 8,9% Ende August dieses Jahres nahezu historisch niedrig.
Zudem reagierte Brasiliens Zentralbank beherzt auf die Teuerung und erhöhte den Leitzins, den sog. Selic-Satz, wesentlich früher als die Zentralbanken in Europa und den USA. Dieser stieg von 2% im März 2021 auf mittlerweile 13,75% an. Damit stabilisiert die Zentralbank die Währung Real, die Inflation sinkt so voraussichtlich unter 6% zum Jahresende. Gleichzeitig liberalisiert Brasilien seinen Finanzmarkt. Bislang dominierte die brasilianische Entwicklungsbank BNDES, da der Staat ihre Refinanzierung subventionierte. Doch seit sich die Bank nicht mehr über einen subventionierten Zinssatz mit frischem Geld versorgen kann, ist das De-facto-Monopol Geschichte. Das schafft Wettbewerb unter den Finanzinstituten und kommt dem für Investoren ohnehin schon attraktiven Markt zugute.

Auch die infolge des Ukraine-Kriegs gestiegenen Rohstoffpreise spielen Brasilien in die Karten. Die Agrarwirtschaft boomt, rund 30% des Agrarlandes liegen noch brach und bieten Potenzial für weiteres Wachstum. Auf brasilianischem Territorium existieren außerdem gewaltige Öl- und Erdgasreserven – so viel, dass Brasilien seit dem Jahr 2017 Erdöl exportiert.

Spitzenreiter bei Erneuerbaren

Gleichzeitig ist Brasilien weltweiter Spitzenreiter bei der grünen Energieerzeugung, bereits heute kommen 85% aus erneuerbaren Quellen. Große Wasserkraftwerke decken 60% des heimischen Primärenergiebedarfs, weitere 15% der Energieversorgung liefert die Windkraft und 10% kommen aus Solarkraft und Biomasse. Auch die Zukunft gehört der klimafreundlichen Energieproduktion: Brasilien will in den kommenden Jahren v.a. die Solarkraft weiter ausbauen.

Das Land ist zudem Weltmarktführer für Biokraftstoffe: Hybride Fahrzeuge, die Ethanol tanken, sind längst Standard. Im nordöstlichen Bundesstaat Bahia entsteht aktuell das weltweit größte Werk für grünen Wasserstoff, im benachbarten Pernambuco stecken Investoren weitere 500 Mio EUR in grünen Wasserstoff. Die Elektrolyseure liefert übrigens ThyssenKrupp. Kein Wunder, immerhin ist Brasilien seit mehr als 100 Jahren ein wichtiger Standort für deutsche Unternehmen.

Auch die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) begleitet bereits seit 25 Jahren deutsche Unternehmen in Brasilien. Das fünfköpfige Team mit Sitz in São Paulo, dem Finanzzentrum Brasiliens, finanziert bspw. Exporte unter Deckung verschiedener staatlicher Kreditversicherer, berät rund um den Markteintritt und organisiert Import- und Exportfinanzierungen für deutsche Tochtergesellschaften. Brasilien ist dabei eine Drehscheibe für den südamerikanischen Markt: Die Kollegen aus São Paulo betreuen auch die Nachbarländer Argentinien, Uruguay, Paraguay, Bolivien und Chile.

Demokratie mit viel Potenzial

Trotz seiner Stärken gibt es für Brasiliens weitere Entwicklung auch den einen oder anderen Hemmschuh. Die hohe Staatsverschuldung, eine aufgeblähte Bürokratie und weitere strukturelle Schwächen bremsen das Wirtschaftswachstum. Im internationalen Vergleich belegte das Land im „Ease of Doing Business Index“ der Weltbank im Jahr 2020 nur einen schwachen Rang 124 von 190 Ländern.

Bolsonaros populistisch-rechter Regierungsstil hat dem Ansehen der brasilianischen Demokratie im Ausland erheblich geschadet. Die Staatshilfen und Steuersenkungen, die Bolsonaro mittels einer Verfassungsänderung kurz vor der Wahl im Gießkannenprinzip verteilt hat, beschleunigen zudem den Anstieg der Staatsverschuldung. Die Aussichten für das Wirtschaftswachstum in den Jahren 2022 und 2023 sind nichtsdestotrotz positiv: Finanzinstitute gehen von einem Wachstum zwischen 2,5 und 3% aus.

Welchen Kurs die neue Regierung einschlägt, hängt nicht nur von der Personalie des Präsidenten ab. Die progressive Entwicklung der Wirtschaftspolitik von Minister Paulo Guedes kann keiner der Kandidaten im Alleingang umkehren, denn so umfassend ist der Handlungsspielraum des brasilianischen Präsidenten nicht. Für weitreichende Entscheidungen benötigt dieser eine Mehrheit im brasilianischen Parlament, das aus 81 Senatoren und 513 Abgeordneten besteht.

Brasiliens neue Rolle auf dem Weltmarkt

Aber schon jetzt steht fest: Die Rolle Brasiliens auf dem Weltmarkt dürfte sich in den kommenden Monaten deutlich ändern. Europa hat mit den Folgen des Ukraine-Kriegs zu kämpfen, braucht grüne Energie und Rohstoffe. Zudem wendet sich die Staatengemeinschaft zunehmend von China ab. Hier könnte die Stunde Lateinamerikas und insb. Brasiliens schlagen: Das wirtschaftliche Potenzial ist immens und noch nicht annähernd ausgeschöpft. Brasilien kann bspw. mehr grüne Rohstoffe mit einem vergleichsweise hohen Umweltstandard liefern als andere Länder.

Brasilien hat also viel Potenzial – vorausgesetzt, die neue Regierung macht ihre Hausaufgaben: Das Land braucht nach innen wie nach außen Zeichen eines konstruktiven Regierungskurses, der die Interessen des Landes in den Vordergrund stellt, die Verfassung und das Justizsystem stärkt und Reformen vorantreibt.

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