Trotz erheblicher Unsicherheiten rund um die Pandemie-Entwicklung und staatlicher Maßnahmen hat sich die türkische Konjunktur 2021 deutlich belebt. Im Dezember erreichte die Inflationsrate allerdings ein 19-Jahres-Hoch von 36%, Anfang des Jahres lag sie dann sogar noch höher; eine weitere Lira-Abwertung ist nicht unwahrscheinlich. Dies könnte die Wirtschaft zunehmend belasten.

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Der starke Inflationsanstieg ist auf die drastische Abwertung der türkischen Lira im November und Dezember 2021 zurückzuführen – getrieben durch frühe und unerwartete Senkungen des Leitzinses um insgesamt 500 Basispunkte durch die Zentralbank. Darüber hinaus stieg der Erzeugerpreisindex aufgrund höherer Importpreise im Dezember um 19,1% gegenüber dem Vormonat (saisonbereinigt) und erreichte damit eine Jahresrate von 79,9%. Der türkische Einkaufsmanagerindex (PMI), ein Frühindikator für die Industrieproduktion, blieb im Dezember davon noch unbeeindruckt und stabil bei 52,1 Punkten (nach 52 Punkten im November; ab einem Niveau von 50 Punkten signalisiert er Wachstum). Auch der Außenhandel der Türkei zeigte sich robust. Das Exportgeschäft stieg im Jahr 2021 auf ein Rekordhoch von 225,4 Mrd USD, ein Plus von 33% im Vergleich zum Vorjahr.

Exporte: Wachsende Nachfrage aus dem Ausland

Im Jahr 2021 steigerten 26 Sektoren in der Türkei ihre Ausfuhren, angeführt vom Automobilsektor, der Waren im Wert von 29,3 Mrd USD (+15% gegenüber dem Vorjahr) exportierte, gefolgt vom Chemiesektor mit Gesamtexporten in Höhe von 25,3 Mrd USD (+39% gegenüber dem Vorjahr). Die Ausfuhren des Stahlsektors stiegen im Jahresvergleich gar um 77,4% auf 22,4 Mrd USD. Die Teilnehmer an der PMI-Umfrage erwarten, dass die Auftragseingänge im Exportgeschäft angesichts der internationalen Nachfrage weiter zunehmen werden.

Wie wichtig der Außenhandel für die Türkei ist, zeigt die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. In den ersten drei Quartalen 2021 machten die Nettoexporte (Exporte abzüglich Importe) fast die Hälfte der BIP-Wachstumsrate aus: Das BIP stieg in diesem Zeitraum preisbereinigt um 11,7%, wobei die Nettoexporte einen Beitrag von 5,1 Prozentpunkten leisteten. Die Kapazitätsauslastung blieb mit 78,7% im Dezember 2021 nahe ihrem bisherigen Höchststand, was darauf hindeutet, dass die Unternehmen je nach den wirtschaftlichen Bedingungen weitere Investitionen zur Kapazitätserweiterung tätigen könnten, um die Auslandsnachfrage zu decken. In den ersten elf Monaten des Jahres 2021 blieb die Industrieproduktion entsprechend widerstandsfähig und wuchs um 17% gegenüber dem Vorjahr.

Gestiegene Produktionskosten treiben Verbraucherpreise

Probleme gibt es jedoch bei der Preisgestaltung. Aufgrund der starken Abwertung der Lira werden ausländische Produkte für türkische Produzenten teurer. So sind die Produktionskosten im verarbeitenden Gewerbe im Dezember im Durchschnitt aller Branchen saisonbereinigt um 20% zum Vormonat gestiegen. Konkret betrug der Anstieg 23,9% in der Textilindustrie, 22% in der chemischen Industrie, 24,7% in der Metallindustrie und 17,3% in der Kunststoffindustrie. Da die Produzenten einen großen Teil des Preisanstiegs an die Konsumenten weitergeben, sind im Dezember die Verbraucherpreise überraschend stark um 13,6% zum Vormonat gestiegen. Den größten Anteil hieran hatten die Kosten für Transportmittel, die (u.a. aufgrund hoher Benzinpreise) im Vormonatsvergleich um 28,5% stiegen und damit allein schon 4,4 Prozentpunkte zur Gesamtinflation beitrugen.

Obwohl der Preisanstieg bei Gemüse und Obst im Dezember verhältnismäßig moderat ausfiel (+7,9% zum Vormonat, saisonbereinigt), stiegen die Preise in der Kategorie „verarbeitete Lebensmittel“ stärker an (+16,5%). Waren, deren Preise stärker auf die Volatilität der Lira reagieren, legten sogar um 16,5% (Möbel), 23% (Haushaltsgeräte) bzw. 19% (Artikel für die Instandhaltung und Reparatur von Häusern) zu.

Auch bei den Kerninflationsindikatoren ist die Dynamik nach oben gerichtet: Auf Monatsbasis stieg der Verbraucherpreisindex ohne unverarbeitete Nahrungsmittel, Energie, alkoholische Getränke, Tabak und Gold im Dezember 2021 um 13,9%, verglichen mit +3,2% im November. Die Tatsache, dass die Erzeugerpreise schneller stiegen als die Verbraucherpreise, zeigt, dass Potenzial für weitere Preissteigerungen besteht.

Sinkendes Handelsbilanzdefizit, steigende Tourismuseinnahmen

Frühindikatoren deuten darauf hin, dass die Auslandsnachfrage die türkische Produktionsleistung weiterhin stützen sollte. Von Januar bis Oktober 2021 verringerte sich das Leistungsbilanzdefizit bereits von 28,6 Mrd USD im Vorjahr auf 8,4 Mrd USD, was auf starke Warenexporte, steigende Tourismuseinnahmen (in den ersten drei Quartalen 2021 erreichten die Tourismuseinnahmen immerhin 62% der Einnahmen von 2019) und sinkende Goldimporte zurückzuführen ist.

Beim Ankauf von Gold handelt es sich um ein traditionelles Instrument türkischer Haushalte zum Schutz ihrer Ersparnisse vor Inflation. Die Kernleistungsbilanz (ohne Gold und Energie) verzeichnete im Oktober 2021 einen Überschuss von 26,4 Mrd USD. Ein sinkendes Handelsbilanzdefizit und höhere Einnahmen aus dem Tourismus dürften das Leistungsbilanzdefizit weiter auf 0,5% des BIP im Jahr 2022 verringern, verglichen mit erwarteten 2,5% im Jahr 2021 und 5% im Jahr 2020. Neue Covid-19-Varianten im In- oder Ausland könnten diese Verbesserung jedoch gefährden.

Energiepreise und Mindestlohn verstärken Inflationsdruck

Die Unsicherheit im Hinblick auf die Geldpolitik und die erhebliche Verschärfung der Inflationsdynamik wiegen allerdings schwer. Es wird erwartet, dass die jährliche Inflationsrate in der ersten Jahreshälfte 2022 auf über 40% ansteigen wird und einige Monate lang auf diesem Niveau verharrt (dies bedeutet im Umkehrschluss, dass der Realzins nahe bei –26 Prozentpunkten liegen würde; der niedrigste Wert unter den Schwellenländern).

Der Anstieg der Erzeugerpreise (insbesondere aufgrund des Anstiegs der Energie- und Vorleistungsgüterpreise in Lira) deutet darauf hin, dass die Überwälzung auf die Verbraucherpreise im Jahr 2022 anhalten und die Türkei erst 2024 zu einer einstelligen Inflationsrate zurückkehren wird. Die jüngsten Preiserhöhungen bei Strom und Erdgas sowie die Anhebung des Mindestlohns um 50% – für etwa 40% aller Beschäftigten – werden den Inflationsdruck ebenfalls verstärken.

Kann die Lira-Abwertung gestoppt werden?

Eine erneute Lira-Schwäche würde diese Aussichten zusätzlich belasten. Die Einführung eines staatlichen Schutzplans für Lira-Einlagen vom 21. Dezember 2021 scheint immerhin die Volatilität der Lira relativ verringert und ihre Abwertung begrenzt zu haben. Dieser Plan garantiert durch Zusatzzahlungen den Werterhalt der in Lira nominierten Ersparnisse und zielt darauf ab, die Einleger vom Tausch der Ersparnisse in eine Fremdwährung abzuhalten (und damit eine weitere Abwertung der Lira zu vermeiden). Allerdings ist der Höchstzinssatz in diesem Schutzplan bei maximal +3% festgelegt, was angesichts der hohen Inflation die Sparer kaum überzeugen dürfte, ihre Ersparnisse in Lira zu halten.

Auch die Ankündigung der Zentralbank vom 29. Dezember 2021, Gold- und Beteiligungsfondsbesitzern Anreize für den Umtausch in Lira zu bieten, dürfte eine weitere Schwächephase der Lira nicht ausschließen, was wiederum die ohnehin schon schwache Inflationsdynamik der Türkei beeinträchtigen würde. Hier wird die Zentralbank kreativ werden müssen, um einerseits eine geldpolitische Straffung durchzuführen – mit anderen Instrumenten als dem Leitzins, der von der Regierung bewusst niedrig gehalten werden soll – und um andererseits die Konjunkturerholung nicht abzuwürgen.

seltem.iyigun@coface.com

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