Allein im vergangenen Jahr sind in der Volksrepublik 78 neue Unicorns entstanden. Die China-Experten Chanfang Wang und Thomas Willemsen sprachen im „ExportManager“ über die weltweiten Auswirkungen der Künstlichen Intelligenz (KI), Chinas neuen KI-Einhorn-Boom und Chancen deutscher Firmen.

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Frau Wang, Herr Willemsen, die voranschreitende Entwicklung und Anwendung von Robotik, Automatisierung und KI verändern Arbeitswelt und Gesellschaft insgesamt. In welchen Bereichen sehen Sie neue bzw. besondere Chancen für das Wachstum der Industrie in Asien sowie der Weltwirtschaft?

Chanfang Wang: Theoretisch gibt es keinen Unterschied zwischen Asien und dem Rest der Welt. Jede Branche, in der viele Daten verfügbar sind, bietet Wachstumschancen, wenn es um die Anwendung von Robotik, Automatisierung und KI geht. In den Bereichen intelligenter Einzelhandel, Gesundheitswesen, Wohnen, Stadt, Finanzen, Bildung, Logistik sowie in der Dienstleistungsbranche sehen wir ein starkes Wachstum im Zusammenhang mit der Anwendung von Robotik, Automatisierung und KI in China.

Thomas Willemsen: Da die Konsumkraft in China mit dem Aufschwung der Mittelschicht zunimmt, werden die Verbraucher immer anspruchsvoller, wenn es um den Kauf von Produkten geht. Die grundlegenden Bedürfnisse der Verbraucher zu verstehen und sich an sie anzupassen ist der Schlüssel zum Erfolg im chinesischen E-Commerce. Daten spielen dabei eine entscheidende Rolle. Dank der Echtzeitdaten von Alibaba konnte Mars bspw. feststellen, dass dieselben Personen, die Schokolade über die Ali-Bezahlplattform kaufen, auch scharfe Snacks mögen. Dies half Mars bei der Entwicklung des Spicy-Snickers-Schokoriegels mit Sichuan-Pfefferkörnern, einem beliebten Gewürz in China. Der Riegel wurde ein sofortiger Erfolg und benötigte nur die Hälfte der Zeit, die normalerweise für die Entwicklung neuer Produkte benötigt wird.

Im digitalen Zeitalter wird immer wieder über die Frage diskutiert, ob durch Automatisierung, KI und Robotik Arbeitsplätze wegfallen oder aber neue geschaffen werden. Was meinen Sie?

Wang: Wir glauben, dass man sich ständig neue Fähigkeiten aneignen muss, um in der neuen, auf KI und Robotik basierenden Wirtschaft überleben und gedeihen zu können. Wenn man nicht ständig neue Fähigkeiten erlernt, kann man zum Opfer werden. In den nächsten zehn Jahren werden viele Arbeitsplätze wegfallen und durch KI sowie intelligente Maschinen ersetzt werden. Dabei handelt es sich in der Regel um sich wiederholende Tätigkeiten wie z.B. Fahrer, Produktions- und Lagerarbeiter, Buchhalter, Kellner, Kuriere und Kassierer. Auch bei hochpräzisen Aufgaben wie Operationen haben sich Roboter als besser erwiesen als Menschen.

Willemsen: Wer heute für Lieferando ausliefert, wird sich fragen, ob dieses Berufsfeld noch eine Zukunft hat, wenn diese Dienstleistungen irgendwann durch selbstfahrende Fahrzeuge und Drohnen vollbracht werden. Sie könnten auf komplexen und offenen Straßen und Luftstraßen operieren. Inhaber auch von kleineren Ladengeschäften müssen überlegen, wie sie eine Onlinepräsenz aufbauen und ihre Geschäfte digital abwickeln können. Sie müssen lernen, wie sie auf Grundlage der Kundendaten und Informationen, die sie über ihr eigenes Webportal sammeln, spezifische Marketing- und Werbeaktionen durchführen können.

Wo sehen Sie Chancen, dass direkt oder indirekt neue Arbeitsplätze entstehen?

Wang: Obwohl viele Aufgaben durch KI und Maschinen automatisiert werden, braucht man auch künftig Menschen, um sie zu bedienen. Sie brauchen Techniker, Ingenieure und Arbeiter, um das KI-System zu warten und zu programmieren. Benötigt werden auch talentierte Ingenieure, um die Robotertechnik weiterzuentwickeln, damit sie ein breiteres Spektrum an Bedürfnissen der Menschen erfüllen können. Alle Tätigkeiten, die kreatives Denken und komplexe Schlussfolgerungen sowie schöpferische Fähigkeiten erfordern, wie z.B. Softwareentwickler, wissenschaftliche Innovationen, Lehrtätigkeit, Kunst und Unterhaltung, werden weiterhin von Menschen ausgeführt werden müssen. Maschinen können die emotionale Intelligenz eines Menschen nicht erreichen oder ersetzen.

Deutschland ist in Europa sowohl in der Forschung als auch in der industriellen Umsetzung von Automatisierung und Robotik, aber auch KI sehr gut aufgestellt. Wo sehen Sie Unterschiede, aber auch Schnittmengen in der Entwicklung zu Asien?

Willemsen: Robotikanwendungen im Logistikbereich sind in China bedingt durch den sehr hohen Anteil am E-Commerce stärker verbreitet – und die chinesischen Lagerroboterunternehmen kommen heute nach Europa, weil es hier eine steigende Nachfrage nach solchen Anwendungen gibt. Deutschland konzentriert sich mehr auf die mechanische Automatisierung im traditionellen Maschinenbau. Aufgrund der hohen Personalkosten wurden Roboter schon früh in Deutschland eingesetzt, um Produktionskosten zu senken, Prozesse weitgehend zu automatisieren und menschliche Fehler zu minimieren. Die Dichte von Robotern ist dadurch in Deutschland viel höher als in Asien. Immer weiter steigende Löhne und hoher Wettbewerb treffen heute auch mehr und mehr Produzenten in China. Unternehmen in der Volksrepublik sind dadurch gezwungen, ihre Effizienz zu steigern und Kosten zu senken. China und Deutschland können so auch durch verschiedene Spezialisierungen voneinander lernen.

Der globale KI-Vorreiter scheint mittlerweile China. Das Ziel der zweitgrößten Volkswirtschaft war es vor fünf Jahren, bis 2020 die USA einzuholen, bis 2025 große Durchbrüche zu erzielen und bis 2030 weltweit führend zu werden. Wie weit ist man bei diesem Vorhaben vorangekommen und welche Auswirkungen hat die Pandemie dabei?

Willemsen: China und die USA stellen circa 75 bis 80% der weltweiten KI-Unicorns. Allerdings schwankt die Zahl etwas, abhängig von verschiedenen Statistiken. Davon ausgehend, dass es in China vor 2014 keine KI-Unicorns gab, waren es 2021 bereits 301 im Vergleich zu 487 in den USA. In Deutschland gab es 2021 laut Statista 26. Die Pandemie hat die Entwicklung und den Einsatz von KI im Gesundheitswesen in China, aber auch in den westlichen Ländern beschleunigt. In der Volksrepublik wird sie wesentlich konsequenter zur Eindämmung der Pandemie eingesetzt, um die Nachverfolgung zu optimieren. Gleiches gilt auch für den Gesundheitsmarkt im Allgemeinen.

Wie erklärt sich der starke Anstieg der chinesischen Einhörner im KI-Bereich?

Wang: Die chinesische Regierung ist der Hauptbefürworter von Chinas KI-Entwicklung und -Anwendungen. Während der Pandemie nutzte die chinesische Regierung KI und Big Data, um die Corona-Infektionen zu verfolgen und die Infektionsketten zu stoppen. Aufgrund der 1,4 Milliarden Einwohner ist eine riesige Menge an Daten verfügbar. Chinesische Verbraucher ziehen Bequemlichkeit dem Datenschutz vor. Obwohl die Menschen sensibel auf Datensicherheit und Datenlecks reagieren, sind sie offener für die Einführung neuer Technologien zur Verbesserung der Lebensqualität. Daten sind für KI unerlässlich, um sinnvolle Schlussfolgerungen und Vorschläge zu machen. Ohne eine ausreichende Menge an Daten mangelt es an Genauigkeit und Anwendbarkeit der Produkte. Didi, das größte Mitfahrunternehmen der Welt, verarbeitet laut CEO Liu Qing jeden Tag mehr als 70 Terrabyte an Daten, wobei täglich 9 Milliarden Routen geplant werden und 1.000 Fahrzeuganfragen pro Sekunde eingehen. Der Zugang zu KI-Finanzierung ist ein weiterer Parameter für das Wachstum von KI-Einhörnern. Obwohl auch die KI-Branche im Jahr 2020 von Covid-19 getroffen wurde, investierte China 9,9 Mrd USD in KI-Start-ups, was 24% der globalen Investitionen ausmachte.

In den vergangenen zehn Jahren hat China 390.000 KI-Patentanmeldungen eingereicht, das sind drei Viertel der weltweiten Gesamtzahl. Warum ist die Volksrepublik so sehr enteilt und was bedeutet dieser Patentvorsprung?

Willemsen: Insbesondere durch die aktive staatliche Förderung ist China hier stark geworden. Gleichzeitig zwingt der interne Wettstreit in China die Unternehmen dazu, ihren Ideenvorsprung zu halten, um nicht von den Konkurrenten im eigenen Land kopiert zu werden. Zudem sichern sich die Unternehmen durch die Patentanmeldung auch den technologischen Vorsprung zu den westlichen Ländern. Chinesische Unternehmen werden immer reifer und globaler und wollen ihr geistiges Eigentum besser schützen. Bedingt durch die Patentanmeldung bestimmt China in der Zukunft die möglichen Anwendungen und Standards. Das führt gleichzeitig dazu, dass sich die chinesischen Unternehmen so den technologischen Vorsprung gegenüber anderen Ländern sichern.

Hätten Sie konkrete Praxisbeispiele parat, bei denen China in der KI bereits nachhaltige Erfolge vorweisen kann?

Wang: In China gibt es 6,8 Millionen unabhängige Einzelhandelsgeschäfte, die Hunderte von Millionen von Verbrauchern in den Städten beliefern. Alibaba hat diese kleinen Läden umgestaltet, indem es den Ladenbesitzern Einblicke in die Verbraucherwelt verschafft und ihnen hilft, die besten Produkte für den Verkauf in ihrem Laden auszuwählen. Alibaba hilft den Ladenbesitzern, ihre Verkäufe in Echtzeit zu verfolgen, ihre Bestände automatisch aufzufüllen, das zu verkaufende Sortiment auszuwählen, Buchhaltung und Finanzplanung zu erstellen und die Offlineverkäufe mit den Onlineverkäufen des Ladens zu integrieren. Im Jahr 2020 stellte Alibaba eine nutzerzentrierte digitale Fabrik vor, die auf der Grundlage des „Made-to-Sell“-Ansatzes anstelle des traditionellen „Made-to-Stock“-Ansatzes konzipiert ist. Traditionell brauchen Bekleidungsmarken etwa 30 Wochen, um ihre Designs vom Laufsteg in die Produktion zu bringen. Dank der KI- und Big-Data-Technologien ermöglicht die digitale Fabrik die Herstellung von Prototypen mit einer Vorlaufzeit, die 75% kürzer ist als bei der traditionellen Methode. Außerdem wurden die Gemeinkosten um 43% und die Lagerhaltung um 30% reduziert.

KI dürfte auch für deutsche Unternehmen sehr spannend sein, die entweder bereits in China Geschäfte machen oder dorthin expandieren möchten. In welchen Bereichen sehen Sie die größten Möglichkeiten für hiesige Firmen?

Wang: McKinsey zufolge werden hochautonome Fahrzeuge in China im nächsten Jahrzehnt massenhaft zum Einsatz kommen. Die meisten Verbraucher werden nicht in der Lage sein, ein vollständig autonomes Auto zu kaufen. Sie könnten sich aber Robotertaxis und -busse leisten, die rund um die Uhr fahren könnten. HIS Markit prognostiziert, dass Chinas Shared-Mobility-Markt bis 2030 ein Volumen von 352 Mrd USD erreichen wird, was einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 20 bis 28% entspricht. Alle Zulieferer, egal ob es sich um Hardware oder Software für autonome Fahrzeuge aus Deutschland handelt, werden vom Wachstum der autonomen Fahrzeuge in China profitieren. Derzeit ist China für den größten Ausstoß von CO2-Gasen in der Welt verantwortlich. Das Ziel Chinas, bis 2060 kohlenstoffneutral zu werden, bietet Unternehmen aus Deutschland in den Bereichen erneuerbare Energien, umweltfreundliches Bauen und Transportieren, umweltfreundliche Produktion und sauberes Wasser immense Wachstumschancen vor Ort.

Was sollten Unternehmen konkret beachten, wenn Sie den Schritt in die Volksrepublik im KI-Bereich wagen?

Willemsen: Die Regeln im KI-Bereich gelten wie auch für andere Industrien: genaue Evaluation und Analyse des Wettbewerbs sowie der Anforderungen des Marktes – und zwar vorab. Zusätzlich ist unabdingbar, sich mit den lokal gegebenen Geschäftsgebaren auseinanderzusetzen. Die Märkte in China funktionieren anders als in Europa; dessen muss man sich vorab bewusst sein. Auch die sich immer weiter verschärfenden Sicherheitsvorschriften in China in Bezug auf die Verarbeitung und Weitergabe von persönlichen Daten sind genau zu beachten und nicht zu vernachlässigen. Daher gilt es, an dieser Stelle insbesondere mit versierten lokalen Partner und Beratern zusammenzuarbeiten, die die lokale Thematik gut kennen und entsprechend die Unternehmen unterstützen können.

chanfang.wang@outlook.com

www.chinaexpertservices.com

t.willemsen@im-con.de

www.im-con.de

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