Coface-Volkswirt Ruben Nizard spricht im Exklusivinterview mit dem „ExportManager“ über das aktuelle Verhältnis zwischen dem europäischen und dem nordamerikanischen Kontinent, die Auswirkungen der US-Dollar-Stärke, den Rekordkurs der deutschen US-Ausfuhren sowie die neue Energiepartnerschaft mit Kanada.

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Herr Nizard, wie bewerten Sie die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland bzw. der EU derzeit, z.B. in Bezug auf die Handelspolitik?

Ruben Nizard: Nach den eskalierenden Spannungen unter Donald Trump hat es sich die aktuelle Regierung unter Präsident Joe Biden zur Priorität gemacht, die transatlantischen Spannungen insb. im Bereich des Handels abzubauen. So haben die USA bereits im vergangenen Jahr die 2018 unter Trump verhängten protektionistischen Section-232-Zölle von 25% auf europäischen Stahl und 10% auf Aluminium aufgehoben. Stattdessen einigte man sich mit der EU auf die Einführung von Zollkontingenten, ein gewisses Kontingent an Menge und Wert wird also mit einem geringeren Satz verzollt, alles darüber hinaus mit einem höheren Zollsatz. 2021 wurde auch beschlossen, den bereits seit 2004 anhaltenden Streit bei der WTO um Subventionen für Airbus- und Boeing-Flugzeuge für die Dauer von fünf Jahren auszusetzen. Die Gründung des Handels- und Technologierats zwischen der EU und den USA Mitte 2021 spiegelt ebenfalls den Wunsch nach einer stärkeren Zusammenarbeit beider Regionen wider, gerade angesichts der wirtschaftlichen, technologischen und klimatischen Herausforderungen.

Geht die Annäherung unter Biden auch über wirtschaftliche Fragen hinaus?

Ja, das tut sie. Das zeigt z.B. die koordinierte Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine. Oder die von der US-Regierung im Oktober vorgestellte nationale Sicherheitsstrategie, die angesichts der beiden Hauptprioritäten, China auszustechen und Russland in die Schranken zu weisen, auf eine Vertiefung der Allianz mit Europa setzt.

Kurz vor Einbruch des Winters bestimmen in Europa der Ukraine-Krieg, die Inflation und die Energiekrise die Agenda. Wie ist die Lage in den USA?

Die USA haben sowohl mit Russland als auch mit der Ukraine nur begrenzte Handels- und Finanzbeziehungen. Das verlangsamte Wirtschaftswachstum in Europa und die höheren internationalen Preise, v.a. für Energie, wirken sich auch auf die USA aus, aber deutlich abgeschwächter als für die Volkswirtschaften in der EU. Als derzeit weltgrößter Erdöl- und Erdgasproduzent sind die USA energiepolitisch unabhängiger als Europa, die Gefahr einer Energiekrise ist gering. Die wirtschaftlichen Aussichten werden jedoch zunehmend schwieriger. Seit dem zweiten Quartal 2021 liegt die Inflation über dem 2%-Ziel der Fed. Die jährliche Inflation, gemessen am Verbraucherpreisindex, erreichte im Juni mit 9,1% ein 40-Jahres-Hoch. Obwohl sie zuletzt auf 8,2% im September zurückgegangen ist, ist der Preisdruck nach wie vor hoch. Die Fed reagiert darauf mit aggressiven Zinserhöhungen.

Die US-Wirtschaft dürfte in diesem Jahr nur um 2,5% wachsen, 2023 könnte die Wachstumsrate nicht mehr als 1% betragen. Was bedeutet das für die größte Volkswirtschaft der Welt?

Nach einer sehr kräftigen Erholung von der pandemiebedingten Rezession verlangsamt sich die US-Wirtschaft in der Tat und dürfte sich im nächsten Jahr weiter abschwächen. Das Inflationsproblem und die aggressive geldpolitische Straffung der Fed beginnen, sich auf das Wachstum auszuwirken. Die hohe Inflation schmälert die Kaufkraft der privaten Haushalte und damit die Verbraucherausgaben, während sich die ersten Zinserhöhungen mittlerweile in der Finanzierung im Wohnungsbau widerspiegeln. Dort werden Projekte gestoppt oder abgesagt, was in den Bauinvestitionen sichtbar ist. Der Arbeitsmarkt ist nach wie vor stark, was darauf hindeutet, dass die US-Wirtschaft angesichts dieser Schocks immer noch widerstandsfähig ist. Aber der anhaltende Inflationsdruck und das beispiellose Tempo der angesprochenen Geldpolitik werden diese Widerstandsfähigkeit in den kommenden Quartalen auf die Probe stellen. Kurz gesagt: Auch in den USA steigt die Wahrscheinlichkeit einer Rezession.

Blicken wir auf die verschiedenen Branchen in den USA: Welche haben mit Problemen zu kämpfen, welche sind derzeit in guter Verfassung?

Hier kommen wir wieder auf die straffe Geldpolitik der Fed zurück. Die erste Branche, die davon betroffen ist, ist der Bausektor. Der Hypothekenmarkt hat auf die höheren Kreditkosten reagiert. Nicht einmal zwölf Monate nach einem historischen Tiefstand von fast 3% nähern sich die Hypotheken mit 30-jähriger Laufzeit einem Zinssatz von 7%. Das ist der höchste Stand seit 2006. Infolgedessen ist die Nachfrage nach neuem Wohnraum eingebrochen, was sich wiederum auf die Bautätigkeit auswirkt. Die Anzahl der Baubeginne ist seit einem Allzeithoch im April 2022 deutlich zurückgegangen. Die Verlangsamung im Bausektor dürfte sich in den kommenden Monaten fortsetzen und sich auch auf andere Branchen des verarbeitenden Gewerbes auswirken, v.a. auf die Zulieferbranchen wie die Metall- und Holzindustrie. Die höheren Kreditkosten und die Inflation wirken sich auch negativ auf die meisten anderen Branchen aus.

Gibt es Ausnahmen?

Der Öl- und Gassektor ist eine Ausnahme, da er von hohen Energiepreisen und starker Nachfrage profitiert. Vor allem die Erdgasproduktion dürfte in den Jahren 2022 und 2023 einen neuen Rekordwert erreichen, da die LNG-Exportkapazitäten hochgefahren werden. In der Ölindustrie führt die Kombination aus steigenden Preisen und anhaltender Finanzdisziplin zu einer raschen Verbesserung der Bilanzen. Dies ist außergewöhnlich für einen Wirtschaftszweig, der in der Vergangenheit aufgrund des Fracking-Booms v.a. von überschuldeten Kleinunternehmen beeinflusst war, die auf das schnelle Geld aus waren.

Bei den Exporten aus Lateinamerika läuft China den USA trotz der geografischen Nähe zunehmend den Rang ab. Was sind die Gründe für diese Entwicklung?

Seit Anfang dieses Jahrhunderts hat das starke chinesische Wirtschaftswachstum einen schier unersättlichen Appetit auf die allen voran von den südamerikanischen Ländern exportierten Rohstoffe geweckt. Dies war der Hauptfaktor für den schnellen Anstieg des Warenhandels zwischen Lateinamerika und dem Reich der Mitte. Im Jahr 2021 entfielen mehr als 70% der lateinamerikanischen Ausfuhren nach China auf Kupfer, Eisenerz, Sojabohnen und Rohöl. Der Bedeutungsgewinn Chinas für den lateinamerikanischen Handel spiegelt somit auch den Anstieg im Welthandel der vergangenen Jahre wider. China ist insb. für südamerikanische Länder wie Brasilien, Peru, Chile, Argentinien oder Uruguay zum größten Handelspartner geworden.

Warum sind die USA dann nach wie vor größter Handelspartner in Lateinamerika?

Dies ist v.a. dem Handel mit Mexiko zu verdanken. Mit dem Land besteht bereits seit 1990 ein Freihandelsabkommen. Da zahlreiche US-Politiker ihre Besorgnis über die wachsende Präsenz Chinas in der Region geäußert haben, hat die Regierung Biden die Stärkung der Beziehungen zu den südlichen Nachbarn und die Abwehr des wachsenden Einflusses Chinas in der Region als zentralen Punkt mit auf ihre Agenda genommen.

Im Gegensatz dazu sind die deutschen Exporte in die USA in diesem Jahr auf Rekordkurs. Was sind die Gründe dafür?

Nach der Pandemie hat sich der Welthandel sehr schnell erholt, auch zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten. In den vergangenen 18 Monaten haben das rasche Comeback der US-Wirtschaft und die starke Nachfrage der US-Industrie, die ihre erschöpften Lagerbestände wiederaufgebaut hat, in erheblichem Maße zu einem Anstieg der Importe aus der ganzen Welt beigetragen, auch aus Deutschland. Hier ist insb. die Erholung im Automobilsektor zu nennen, da sich die Lieferketten etwas entspannt haben. Der Anstieg der Importpreise aus Deutschland trägt auch einen Teil zum Rekordumsatz der Handelsströme bei.

Der US-Dollar wird im Vergleich zum Euro immer stärker, v.a. aufgrund der Zinserhöhungen der Federal Reserve. Welche weiteren Effekte ergeben sich aus dieser späten, restriktiven Geldpolitik?

Eine restriktivere Geldpolitik hat in der Tat einen globalen Nachhall. Wie in früheren Straffungszyklen hat sich auch der aktuelle in einer Aufwertung des US-Dollar niedergeschlagen. Gegenüber einem handelsgewichteten Korb aus Währungen, sprich den Währungen, mit denen die USA den meisten Handel betreiben, hat der US-Dollar um 17% aufgewertet. Der Euro-Dollar-Kurs bewegt sich dagegen seit dem Sommer dieses Jahres um die Parität. Die rasche Aufwertung des US-Dollar hat wiederum Auswirkungen auf die Weltwirtschaft, v.a. auf die Kapitalmärkte und die Liquiditätsbedingungen.

Woran liegt das?

Da schätzungsweise die Hälfte des Welthandels in US-Dollar abgeschlossen wird, treibt eine Aufwertung die Preise für importierte Waren für den Rest der Welt in die Höhe. Darüber hinaus werden die meisten Rohstoffe in US-Dollar abgerechnet, sodass diese Preise ebenfalls von Währungsschwankungen gegenüber der heimischen Währung beeinflusst werden. Steigen die Zinssätze und wertet der US-Dollar auf, so erhöht sich auch die Dollar-Verschuldung. Nach Angaben der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich beliefen sich die auf US-Dollar lautenden Kredite an Unternehmen und private Haushalte, die sich außerhalb der USA befinden, zu Beginn des Jahres auf über 13 Bio USD. Und letztendlich drängt die Dollar-Stärke auch die anderen Zentralbanken zu einer strafferen Geldpolitik.

Deutschland und Kanada gehen eine neue Energiepartnerschaft ein, z.B. in puncto Wasserstoff. Inwieweit ist das gut für beide Seiten?

Auf dem Papier könnten alle Beteiligten von dieser Partnerschaft profitieren. Denn Kanada will ein wichtiger Produzent und Exporteur von Wasserstoff werden und Wasserstoff ist Teil des deutschen Plans zur Energiewende. Außerdem haben Kanada und Deutschland eine starke und zuverlässige Beziehung und könnten mittel- bis langfristig zur Energiewende und zur Energiesicherheit beitragen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese neue Wasserstoff-Allianz in naher Zukunft zur deutschen und europäischen Energiesicherheit beitragen wird, da die ersten Wasserstoffexporte nicht vor 2025 erwartet werden.

In welcher Verfassung ist die kanadische Wirtschaft zurzeit?

Coface prognostiziert, dass das kanadische BIP 2022 um 3,4% und im kommenden Jahr um 1,7% zum Vorjahr wachsen wird. Ähnlich wie in den USA hat die Gesamtinflation in Kanada mit 8,1% im Juni ein Vier-Dekaden-Hoch erreicht. Um den Inflationsdruck einzudämmen, hat die Bank of Canada ihren Leitzins zwischen März und September 2022 ebenfalls aggressiv um 3 Prozentpunkte angehoben. Infolgedessen gibt es bereits Anzeichen für eine Verlangsamung der Wirtschaftstätigkeit. Und da die Zentralbank im Kampf gegen die Inflation weitere Zinserhöhungen anstrebt, werden die Hürden für das Wachstum höher.

Inwieweit profitiert Kanada aktuell?

Kanada ist ein wichtiger Exporteur von Energierohstoffen. Daher wirkt sich der Anstieg der Energiepreise positiv auf die sog. Terms of Trade, also das Verhältnis von Export- zu Importpreisen, aus und führt zu einer ausgeglichenen bis steigenden Handelsbilanz. Darüber hinaus erholen sich die Investitionsausgaben in diesem Sektor, der in den vergangenen zehn Jahren eher schwach war. Dies kurbelt die Nachfrage in der Gesamtwirtschaft zumindest etwas mit an.

Wie steht es um das Verhältnis zwischen Kanada und den USA?

Als Kanadas größter diplomatischer und wirtschaftlicher Partner sind die Beziehungen zu den USA nach wie vor wichtig. Nach Spannungen unter der Trump-Regierung scheint der Austausch zwischen beiden Ländern seit dem Regierungswechsel zuverlässiger zu sein. Dennoch gibt es nach wie vor Streitpunkte. An seinem ersten Tag im Amt widerrief Biden die Baugenehmigung für Phase 4 des Pipeline-Projekts Keystone XL, das die Ölausfuhr von Kanada in die USA erhöht hätte – mit dem Hinweis auf die negativen Auswirkungen auf die Umwelt. Diese Entscheidung sorgte in Kanada für Enttäuschung, insb. in der ölreichen Provinz Alberta, die wirtschaftlich am meisten von der Pipelineverlängerung profitiert hätte. Auch einige länger bestehende Handelsfragen führen weiterhin zu Spannungen. Heikle Themen waren zuletzt bspw. die Handelszölle der US-Regierung auf kanadisches Nadelschnittholz oder die Zuteilung von Zollkontingenten für kanadische Milcherzeugnisse.

Die Fragen stellte Jörg Rieger.

ruben.nizard@coface.com

www.coface.com

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