Die jüngsten Kapitalabflüsse und die Abwertung der Rupie haben die Vertrauenskrise in Indien verschärft. Das wirtschaftliche Umfeld ist schwierig, und das Land zeigt sich zunehmend krisenanfällig. Der politische Stillstand erschwert die Umsetzung notwendiger Strukturreformen. Die relativ gute Bewertung des kurzfristigen politischen Risikos (Kategorie 2 von 7) ist Indiens Wachstumspotential und der noch komfortablen Devisenlage zu verdanken.
Von Christoph Witte, Direktor Deutschland, Delcredere N.V.
Das politische Umfeld ist schwieriger geworden, nachdem Ende 2010 eine Reihe von Korruptionsskandalen die regierende Kongresspartei belastet hatte. Seitdem wurde das Reformprogramm der Regierung durch die Opposition und die kleinen, nicht immer zuverlässigen und von regionalen Interessen getriebenen Koalitionspartner weitgehend verhindert. Letztere lehnten politische Maßnahmen ab, die sich auf regionaler Ebene ungünstig auswirken könnten.
Als Reaktion auf den wirtschaftlichen Abschwung brachte der 2012 neu ernannte Finanzminister P. Chidambaram verschiedene Reformen auf den Weg wie z.B. eine Lockerung der Deckelung von ausländischen Investitionen in verschiedenen Sektoren (insbesondere Einzelhandel und Luftfahrt). Der vor kurzem nominierte Zentralbankgouverneur, der ehemalige Chefökonom des IWF, Raghuram G. Rajan, kündigte Ende September einen Plan zur Liberalisierung des Bankensektors an. Doch angesichts schwieriger politischer Verhältnisse wird die Regierung bis zu den Parlamentswahlen im Mai 2014 in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt bleiben.
Bei den bevorstehenden Wahlen werden sich als Spitzenkandidaten für das Amt des Premierministers N. Modi (Vertreter der indischen Volkspartei BJP und Gouverneur von Gujarat) und möglicherweise der Sohn von Sonia Gandhi, Rahul Gandhi (Kongresspartei), aufstellen lassen. Es ist zudem mit einem weiteren Kandidaten zu rechnen, der die regionalen Belange vertreten wird. Die Kongresspartei ist durch die Korruptionsskandale, die schlechte wirtschaftliche Lage und die hohe Inflation geschwächt. Der wirtschaftsliberale Kandidat Modi ist eine umstrittene Persönlichkeit; seine Popularität unterliegt starken Schwankungen. Nur eines ist gewiss: Eine breite Koalition verschiedener Parteien wird erneut nötig sein, um eine Mehrheit im Parlament zu erreichen. Und der Einfluss der Regionen wird weiter wachsen. Dies dürfte angesichts der gegenwärtigen Erfahrungen auch in Zukunft die nationale Politik belasten.
Die Abschwächung des Wirtschaftswachstums setzt sich in Indien stetig fort. Nachdem im Zeitraum 2000 bis 2010 das BIP um 7,5% im Jahresdurchschnitt zugelegt hatte, begann das Wachstum an Fahrt zu verlieren. Im Fiskaljahr 2012/2013 wurde mit einem Zuwachs von 5% der niedrigste Wert der vergangenen Dekade verbucht. Für das laufende Fiskaljahr 2013/2014 wird bestenfalls ein deutlich unter Potential liegendes Wachstum von 4,2% erwartet.
Indiens Wirtschaft leidet zwar unter dem schwachen globalen Umfeld und den Folgen der Kapitalabflüsse, doch die aktuelle Wirtschaftskrise ist in erster Linie hausgemacht und auf das jahrelange Ausbleiben von Strukturreformen zurückzuführen. Die (aktuelle und auch die zukünftige) Regierung muss Fehlentwicklungen (wie z.B. zu hohe Importe und hohe Inflationsraten) korrigieren. Unternehmerfreundliche Maßnahmen sind vonnöten, um das Vertrauen der Investoren zu verbessern. Zudem muss der Wechselkurs der Rupie stabilisiert werden.
Doch die Wirtschaftspolitik steht vor großen Herausforderungen, weil es im Vorfeld der Wahlen schwierig ist, die Haushalts- und Geldpolitik restriktiver zu gestalten. Unter der Voraussetzung, dass die Ungleichgewichte durch angemessene Anpassungsmaßnahmen allmählich korrigiert werden, könnte sich das Wachstum in Indien stabilisieren, bevor es mittelfristig wieder auf einen höheren Wachstumspfad zurückfindet. Doch ohne einschneidende Reformen (Reformen des Staatshaushalts, des Einzelhandels für Nahrungsmittel etc.) wird Indiens Wirtschaft nicht mehr seine Potentialwachstumsrate von 8% erreichen und voraussichtlich bis 2018 bestenfalls mit Wachstumsraten in der Größenordnung von 6,7% zulegen.
Die hohe Inflationsrate, die voraussichtlich im Jahresdurchschnitt bei 10% verharrt, hält die indische Zentralbank (RBI) davon ab, ihre Geldpolitik zu lockern. Dies belastet die Finanzierungskosten der Unternehmen und führt zu einem Aufschub der privaten Investitionen.
Die indische Währung wertete zwischen Mai und August um 25% gegenüber dem US-Dollar ab, nachdem die Fed angekündigt hatte, die expansive Geldpolitik zu beenden. Seitdem hat sich die Rupie wieder etwas erholt. Doch die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Abwertung sorgten für Überraschung. Im Vergleich zu anderen Schwellenländern wurde Indien besonders stark vom Kapitalabfluss getroffen. Dies war auf die negative Einschätzung der Investoren (Strukturschwächen, hohes Leistungsbilanzdefizit und schlechte Wachstumsaussichten) zurückzuführen.
Indiens Leistungsbilanzdefizit ist mit aktuell fast 5% des BIP (gegenüber 2,7% im Jahresdurchschnitt 2008–2011) sehr hoch. Grund hierfür ist der gestiegene Fehlbetrag in der Handelsbilanz, der auf die hohen Ölimporte (über 30% der gesamten Güterimporte) und Goldeinfuhren bei gleichzeitiger Stagnation der Exporte zurückzuführen ist.
Da eine Reduzierung der Ölimporte wegen der wachsenden Energienachfrage in Indien kaum zu realisieren ist, ergriff die indische Regierung schnell provisorische Maßnahmen: Der Kapitalabfluss wurde durch Importbeschränkungen und Kapitalverkehrskontrollen begrenzt. Wegen Indiens starker Abhängigkeit vom Auslandskapital dürfte allerdings kaum mit weitergehenden Eingriffen zu rechnen sein.
Trotz der starken Abwertung der Rupie ist jedoch auch kaum mit einer kräftigen Erholung der Exporte zu rechnen. Indiens Exportpotential ist begrenzt. Die schlechte Infrastruktur und die hohe Teuerungsrate, die durch die steigenden Importkosten getrieben wird, beeinträchtigen die Wettbewerbsfähigkeit der indischen Produkte.
Vor diesem Hintergrund sind Indiens externe Finanzierungsbedürfnisse zum Ausgleich der Zahlungsbilanz deutlich gestiegen. Das Land ist anfälliger geworden für externe Schocks, die in Zukunft für einen spürbaren Abbau der Währungsreserven sorgen könnten.
Im Vergleich mit anderen großen Schwellenländern ist Indien Spitzenreiter hinsichtlich der Staatsverschuldung. Diese beläuft sich auf 67% des BIP – wobei dieser Anteil langsam, aber stetig sinkt. Für Zinszahlungen müssen fast 25% der gesamten Staatseinnahmen aufgewendet werden. So ist das Länderrisiko Indiens relativ hoch, wobei die weitgehend inländische Finanzierung der Staatsschulden dieses Risiko reduziert. Der Staatshaushalt befindet sich chronisch tief in den roten Zahlen (das Haushaltsdefizit betrug während der vergangenen zehn Jahre jahresdurchschnittlich 8% des BIP). So hat nicht nur die Geldpolitik zurzeit wenig Möglichkeiten, das Wachstum zu stimulieren, sondern auch die indische Regierung hat wenig Spielraum für die Finanzierung von Sozial- und Infrastrukturausgaben, die für die Entwicklung des Landes dringend notwendig sind.
Hinzu kommt, dass es der Regierung aufgrund der schwierigen politischen Lage bislang noch nicht gelungen ist, die geplante Steuerreform umzusetzen. Auch die teuren Subventionen (für Nahrungsmittel, Benzin, Düngemittel) in Höhe von 2,6% des BIP wurden noch nicht abgeschafft. Sie belasten den Haushalt und setzen falsche Anreize für die Wirtschaft.
Obwohl die Ausgabenbedürfnisse hoch sind, sieht sich die Regierung in der Pflicht, den Haushalt weiter zu konsolidieren, vor allem auch, weil sonst eine Herabstufung der Kreditwürdigkeit des Landes droht. Sie plant, mittelfristig das Haushaltsdefizit auf 5% des BIP zu verringern, insbesondere durch den Abbau der Benzinsubventionen um 30% in diesem Jahr.
Mit dem wirtschaftlichen Abschwung steigen die finanziellen Risiken in Indien. Der vom Staat dominierte Bankensektor ist zwar aufgrund seiner guten Kapitalausstattung in einem relativ gesunden Zustand, doch er gerät durch drohende Liquiditätsengpässe und eine Verschlechterung der Bankbilanzen zunehmend unter Druck.
Die finanziellen Risiken Indiens erscheinen geringer, wenn man die Auslandsverschuldung betrachtet, die auf einem tragbaren Niveau von 20% des BIP liegt. Doch das geringere Wachstum und die steigenden Finanzierungsbedürfnisse durch das Leistungsbilanzdefizit haben zu einer Zunahme der privaten und öffentlichen Kreditaufnahme im Ausland geführt. So dürfte sich der aktuelle Aufwärtstrend bei den Schuldenquoten fortsetzen.
Obwohl die Währungsreserven eine Deckung von fünf Monatsimporten erlauben, könnte ihr langsames Abschmelzen seit 2010 Anlass zur Sorge geben. So könnte es zur Krise kommen, wenn sich die Wirtschaftskrise verschärfte, Indien einem externen Schock ausgesetzt würde (z.B. durch Ölpreiserhöhungen in Verbindung mit der politischen Instabilität im Nahen Osten) oder ein Vertrauensverlust in die Rupie die indische Zentralbank zur Stützung des Wechselkurses zwingen würde.
Die ausführliche Länderstudie Indien steht unter www.ducroiredelcredere.de zum kostenlosen Download bereit.
Kontakt: c.witte[at]delcredere.eu
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