Wie viele Volkswirtschaften Asiens hat sich Indien seit Mitte 2009 rasch und stark von der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise erholt. Die solide Wirtschaftsdynamik wird in Asien nur noch von China übertroffen. Die Wachstumsprognosen für die indische Wirtschaft liegen derzeit bei 9,5% für 2010 und 8,4% für 2011. Nach einem stärker binnenwirtschaftlich gestützten Wachstum kommen die Impulse nun auch von der Exportseite, die von der Wiederbelebung des Welthandels profitiert.
Von Christoph Witte, Direktor Deutschland, Delcredere N.V.
Die bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit und das rege Wachstum der indischen Wirtschaft während der Krise waren größtenteils auf die starke Inlandsnachfrage (Privatkonsum und Investitionen) zurückzuführen. Nun trägt auch der starke Export zum Wachstum bei. Außerdem liegen die Monsunregenfälle dieses Jahr im Normalbereich, was voraussichtlich zu einer höheren landwirtschaftlichen Produktion führen wird. Für den Wirtschaftszweig, in dem die Hälfte der indischen Arbeitnehmer beschäftigt ist, ist dies nach der schlechten Ernte 2009 eine gute Nachricht.
Durch die breitgefächerte Erholung der Wirtschaft, besonders bei den IT-Dienstleistern und im Einzelhandel, ist die Inflation auf zweistellige Werte angewachsen. Daher haben die Behörden die Straffung der Geldpolitik in Angriff genommen, vor allem durch strengere Mindestreservevorgaben und mehrere Zinsanhebungen. Weitere Zinserhöhungen werden in naher Zukunft erwartet, da die Zentralbank bis jetzt nur 25% der krisenbedingten Zinssenkungen rückgängig gemacht hat. Die indische Wirtschaft wird deshalb mittelfristig langsamer wachsen, dafür aber mit geringerer Inflation. Es besteht weiterhin die Gefahr eines zweiten Konjunkturtiefs und negativer Effekte einer Wachstumsflaute in den hochentwickelten Industrieländern.
Die Regierung von Premierminister Singh bemüht sich auch um die Konsolidierung der schwachen öffentlichen Finanzen. Das Defizit überstieg in den Jahren 2008 und 2009 10% des BIP und geht erst jetzt langsam zurück. An erster Stelle steht die Aufhebung von Subventionen und Steuererleichterungen, an zweiter Stelle stehen strukturelle Maßnahmen. Die Kongresspartei von Premierminister Singh kann seit den erfolgreichen Parlamentswahlen vom Mai 2009 notwendige Reformen durch ihre größere Mehrheit effektiver vorantreiben.
Vor kurzem beschloss die Regierung die Umgestaltung des staatlich kontrollierten Kraftstoffpreissystems. Durch den allmählichen Abbau von teuren Subventionen und die Erhöhung der Preise für Kerosin und für das zum Kochen benutzte Gas sollen die öffentlichen Haushalte entlastet werden.
Die Maßnahmen sind notwendig, da Indien diese Subventionierung aufgrund der hohen Kraftstoffkosten nicht langfristig aufrechterhalten kann, vor allem da der Energiebedarf der Wirtschaft voraussichtlich weiter wachsen wird. Es war keine Überraschung, dass die unpopuläre Reform zu zahllosen regierungsfeindlichen Protesten geführt hat. Die wirkliche Prüfung steht aber noch bevor, wenn der Ölpreis steigt.
Eine geplante umfassende Reform des direkten und indirekten Steuersystems, der Verkauf von Telekommunikations-lizenzen und die andauernde Privatisierung werden zu einer drastischen Verringerung der Haushaltsdefizite beitragen. Deswegen und angesichts des schnell wachsenden BIP werden die Staatsschulden bis 2015 von derzeit mehr als 80% des BIP auf weniger als 70% zurückgehen, ein offizielles Ziel, das die starke Belastung der öffentlichen Haushalte durch Zinsen ein wenig verringern wird (im Moment werden 27% der Staatseinnahmen für die Zinsen der Staatsschulden aufgewendet).
Die Wirtschaftspolitik der Regierung wird von positiven Entwicklungen und soliden wirtschaftlichen Grundlagen gestützt: Die Devisenreserven gewährleisten eine Importdeckung von bis zu acht Monaten, und Kapital (in Form von Portfolio- und ausländischen Direktinvestitionen) wird weiterhin vom Wachstumspotential Indiens angezogen. Dadurch wird das wachsende Leistungsbilanzdefizit in der Zahlungsbilanz problemlos ausgeglichen. Der weitgehend staatseigene Bankensektor war relativ unempfindlich gegen die Auswirkungen der Finanzkrise, doch sind Stresstests geplant, mit denen vor allem die Notwendigkeit einer Rekapitalisierung abgeschätzt werden soll.
Dagegen sind Infrastrukturengpässe und schwache und ineffiziente Staatsorgane ernsthafte Hindernisse für die Wirtschaftstätigkeit des Landes, was noch für längere Zeit verhindern wird, dass Indien den Konkurrenten China einholt. Auch die bittere Armut macht Indiens Wirtschaft für negative Einflüsse anfällig. Die wachsenden Einkommensunterschiede zwischen der Stadt- und der Landbevölkerung führen immer wieder zu Unruhen in mehreren nordöstlichen und östlichen Bundesstaaten, wo maoistische Aufständische aktiver und gewalttätiger werden. In vielen Regionen Indiens verstärkt der Ausschluss der Bevölkerung vom nationalen Wirtschaftsboom die Autonomiebestrebungen, was schließlich zu einer Zersplitterung der indischen Bundesstaaten führen könnte.
Außer den genannten Quellen der Instabilität bleibt der Konflikt zwischen Muslimen und Hindus ein gefährliches Thema. Dieser Konflikt spiegelt die indischen Beziehungen zu Pakistan, welches für Indien mit Abstand den größten externen Risikofaktor bildet. Obwohl der Dialog wieder aufgenommen wurde, stagniert der Friedensprozess seit den Anschlägen in Mumbai 2008, und die erneuten Spannungen in der umstrittenen Region Kaschmir belasten ihn zusätzlich.
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