Premierminister Tayyp Erdogan regiert seit 2002 mit seiner gemäßigten islamischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) in der Türkei. Die verschiedenen Regierungen der AKP haben dem Land politische Stabilität und wirtschaftliches Wachstum beschert wie noch keine politische Führung zuvor. Doch während Erdogan seinem Land zunehmenden Wohlstand bringt, scheint seine
Politik mit jedem Wahlsieg autoritärer zu werden.
Von Christoph Witte, Direktor Deutschland, Delcredere N.V.
Erdogan hat im Verlauf der vergangenen zehn Jahre die Oberhand im langjährigen Kampf gegen die Vorherrschaft der säkularen kemalistischen Führungsschicht gewonnen. Diese setzt sich vor allem aus türkischen Generälen und ihren Verbündeten in der Justiz zusammen. Erdogan baute die Privilegien der Armee ab und stellte die Generäle unter die Kontrolle der demokratisch gewählten Regierung.
Auch wenn die Putschgefahr in der Türkei gering ist: Die demokratischen Institutionen haben sich noch nicht ausreichend entwickelt. Während die Verfassung den Türken formal Meinungsfreiheit zugesteht, verbietet der berüchtigte Artikel 301 des Strafgesetzbuchs, den türkischen Staat, eine Volkszugehörigkeit oder Regierungsinstitutionen zu beleidigen. Im vergangenen Juli verabschiedete das Parlament eine Justizreform, die die Justizverfahren beschleunigen, die Willkür reduzieren und das Strafmaß in einen besseren Einklang mit den Delikten bringen soll. Auch wenn die Auswirkungen der Reformen noch nicht klar sind, können die verschiedenen Reformrunden doch als positive Entwicklung eingeschätzt werden, und es besteht die Hoffnung, dass in der Türkei Schritt für Schritt rechtsstaatliche Verhältnisse nach EU-Standard durchgesetzt werden.
Premierminister Erdogan möchte in der neuen Verfassung das Amt des Staatspräsidenten nach dem Vorbild des französischen Präsidialsystems mit mehr Macht ausstatten. Da er gemäß den Parteiregeln nicht erneut als Premierminister antreten darf, wird erwartet, dass er sich bei den ersten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 als Kandidat aufstellen lassen wird. Sollte er zum Staatspräsidenten gewählt werden und auch 2021 eine Wiederwahl erreichen, dürfte er bei der Hundertjahrfeier der Türkischen Republik im Jahr 2023 den Ton angeben.
Trotz der turbulenten Entwicklung auf ihren wichtigsten Exportmärkten wuchs die türkische Wirtschaft in den vergangenen drei Jahren kräftig und gewann schnell verlorenes Terrain wieder zurück. Seit Ende 2009 ist die Türkei das Land mit dem höchsten Wachstum in der Region. 2010 legte das BIP um 9,2% und 2011 um 8,5% zu. Das robuste Industriewachstum wurde in dieser Zeit durch eine Vielzahl dynamischer kleiner und mittlerer Unternehmen in Anatolien getragen.
Die atemberaubende Expansion war jedoch nicht nachhaltig, zumal die Entwicklung der türkischen Wirtschaft zu schnell erfolgte und klare Zeichen einer Überhitzung aufwies. Die Nachfrage wurde vor allem durch die ungestüme Erholung des privaten Konsums in Verbindung mit einem starken Kreditwachstum angetrieben. Die akkommodierende Geldpolitik in den westlichen Industrieländern begünstigte Kapitalimporte in Länder wie die Türkei und versorgte diese mit billigem Geld. Dieses wurde über die Inlandsbanken an die Konsumenten weitergereicht, die anfingen, sich kräftig zu verschulden, was auch die Nachfrage nach Immobilien und Bauleistungen anfachte. Die Türkei hat eine sehr junge und konsumfreudige Bevölkerung, die zudem schnell wächst. Mehr als die Hälfte der Einwohner ist jünger als 30 Jahre.
Die Überhitzung zeigte sich deutlich, als sich die Inflation Ende 2011 beschleunigte und die Inflationsraten Anfang 2012 zweistellig wurden. Doch statt die Geldpolitik vor dem Hintergrund steigender Inflationsraten und eines anhaltenden Kreditwachstums zu straffen, lockerte die türkische Zentralbank (CBT) diese anfangs noch zusätzlich, um den Zufluss von volatilem Kapital zu bremsen. Gleichzeitig bemühte sie sich, das Kreditwachstum durch eine Erhöhung der Mindestreserveanforderungen an die Banken zu beschränken.
Aufgrund dieser unorthodoxen Geldpolitik wurde das offizielle Inflationsziel in Höhe von 5,5% im Jahr 2011 deutlich verfehlt, wodurch die Frage aufkam, ob die CBT den Pfad der erfolgreichen Inflationsbekämpfung verlassen habe. Mit den wachsenden Sorgen über die Entwicklung der Wirtschaft geriet auch die türkische Lira unter Druck. Sie verlor gegenüber dem USD-EUR-Währungskorb mehr als 10% im Vergleich zum Vorjahr 2011.
Die robuste private Nachfrage führte neben inflationären Wirkungen auch zu einem Anstieg des Leistungsbilanzdefizits, das 2011 einen Rekord von 10% des BIP erreichte nach bereits 6,5% des BIP im Vorjahr. Die Finanzierung dieses hohen Defizits ist problematisch, weil sie seit einigen Jahren zunehmend über die Aufnahme kurzfristiger Darlehen im Ausland erfolgt. Die kurzfristige Auslandsverschuldung macht derzeit 50% der Exporterlöse aus, während die Devisenreserven der Zentralbank den Bestand an kurzfristigen Schulden nicht mehr decken. Die rapide Verschlechterung dieser Indikatoren in jüngster Zeit ist beachtlich.
Die Kapitalzuflüsse, die zur Deckung des Leistungsbilanzdefizits notwendig sind, bestehen vor allem aus volatilen Portfolioinvestitionen. Diese Finanzierungsquelle macht die Türkei verwundbar für veränderte Risikoeinschätzungen, zumal das volatile Kapital bei sinkendem Vertrauen plötzlich abfließen könnte, wie es die Türkei bereits im zweiten Halbjahr 2011 erfahren hat, als die Finanzmärkte weltweit austrockneten.
Im Einklang mit der globalen Abkühlung hat sich auch in der Türkei das Wachstum spürbar gegenüber dem Vorjahr abgeschwächt. Doch ist es in der Türkei höher als in allen anderen europäischen Ländern. Im ersten Halbjahr 2012 legte das BIP moderat um 2,8% zu. Im Unterschied zu den Jahren 2010 und 2011 entwickelte sich der Inlandsverbrauch schleppend, und die Aktivität im Bausektor verlangsamte sich. Nur der positive Außenbeitrag bewahrte die Türkei vor einer Rezession. Die Importe entwickeln sich seit drei Quartalen rückläufig, während die Exporte zulegen.
Dieses Muster dürfte sich in den nächsten Quartalen fortsetzen: Die Binnennachfrage verliert weiter an Dynamik, und das Wachstum erhält seine Impulse von der Auslandsnachfrage. Für das Gesamtjahr 2012 dürfte das BIP um 3% bis 3,5% zulegen. Für 2013 besteht derzeit Konsens, dass die türkische Wirtschaft um 4% bis 4,5% wachsen wird, ein Trend, der sich auch mittelfristig fortsetzen dürfte. Dieses moderate, aber nachhaltige Wachstum ist zu begrüßen, weil es die Sorgen verringert, dass Ankara hohe Kosten für eine Wachstumsstrategie in Kauf nimmt.
Die Inlandsnachfrage entfaltet sich nur noch schleppend, weil der Zugang zu Verbraucherkrediten schwerer geworden ist. Die Versuche der türkischen Zentralbank, die Kreditvergabe einzuschränken, haben Früchte getragen; das Kreditwachstum ist seit einem Jahr auf realer Basis rückläufig. Seit Ende 2011 hat die Zentralbank in Erwartung höherer Inflationsraten und einer Abwertung der türkischen Lira die Geldpolitik gestrafft. Zusammen mit der rückläufigen globalen Risikoaversion im Vergleich zum Höhepunkt von vor einem Jahr führte dies zu einem Rückfluss an Kapital und einer Stärkung der türkischen Lira. Doch weil die Wirtschaft an Fahrt verliert, ist die Zentralbank zurzeit wieder bereit, die Geldpolitik zu lockern. Das könnte allerdings mit Risiken verbunden sein, zumal die Inflationsrate im August mit einer Jahresrate von 8,9% immer noch hoch war und weit über dem Inflationsziel von 5% lag.
Doch die größte Sorge gilt dem türkischen Leistungsbilanzdefizit. Nachdem es im Oktober 2011 eine Rekordhöhe erreicht hatte, ging es allerdings wieder langsam zurück. Dieser Trend hat sich in den vergangenen Monaten aufgrund des starken Exportwachstums und der Steuererhöhungen, die die private Nachfrage und folglich die Importe dämpften, fortgesetzt. Dabei ist der zurzeit relativ stabile Ölpreis hilfreich, auch wenn sich die Energiepreise für Energieimportländer wie die Türkei immer noch auf zu hohem Niveau bewegen.
Da sich die Schere in der Leistungsbilanz nur sehr langsam schließt, hat die Türkei einen hohen externen Finanzierungsbedarf. Die Folge ist, dass in einem Umfeld instabiler Finanzmärkte das Wechselkursrisiko wieder gestiegen ist. Die türkische Lira dürfte nicht weiter aufwerten, solange sich das Leistungsbilanzdefizit auf hohem Niveau bewegt.
Die öffentlichen Finanzen wurden in den vergangenen zehn Jahren erfolgreich konsolidiert. Die türkische Regierung führte die gesamte Staatsverschuldung von 80% des BIP im Jahr 2001 auf gegenwärtig weniger als 40% des BIP zurück, ein Trend, der fortgesetzt werden dürfte. Die Haushaltskonsolidierung eröffnete der Regierung einen großen finanziellen Handlungsspielraum. Die Anleihezinsen sanken sogar auf Niedrigwerte, und die Regierung konnte erstmals 30-jährige Eurobonds begeben, mit dem Ergebnis, dass die durchschnittlichen Fälligkeiten der Anleihen gestreckt wurden bei einem insgesamt niedrigeren Schuldenstand.
Mit Unterstützung des robusten Wachstums sank das Haushaltsdefizit im Jahr 2011 unter 1% des BIP. Doch es wird erwartet, dass es sich 2012 wieder auf 2,5% des BIP ausweitet, zumal sich die Steuereinnahmen in Abhängigkeit vom Wachstum entwickeln. Die Einnahmen aus indirekten Steuern machen 50% der gesamten Staatseinnahmen aus. Der bedeutende Schwarzmarkt – Schätzungen gehen von etwa 40% der Wertschöpfung aus – erschwert die Eintreibung von direkten Steuern.
Der starke Effekt des Aufschwungs hat in den vergangenen Jahren verdeckt, dass die Regierung einen expansiven Ausgabenkurs fährt, denn die Staatsausgaben ohne Zinszahlungen steigen seit 2009 kräftig. Das Ausgabenverhalten der Regierung ist zu sehr prozyklisch. Die Regierung hat während der Boomjahre die Gelegenheit verpasst, durch fiskalische Maßnahmen den stark expandierenden privaten Ausgaben entgegenzuwirken.
Die Auslandsschulden der Türkei haben sich in den vergangenen Jahren trotz Aufschwungs kaum verringert. Sie bewegen sich im Bereich von 180% der Exporterlöse, was einem hohen Niveau entspricht. Grund ist eine zunehmende Verschuldung der türkischen Banken im Ausland – die Kehrseite des Kreditbooms der Jahre 2009 bis 2011. Doch niedrigere Zinssätze und im Durchschnitt längere Fälligkeiten für die Rückzahlung der Schulden haben die Schuldendienstquote von einem zuvor noch besorgniserregenden auf ein inzwischen tragbares Niveau verringert.
Die wirtschaftlichen Grunddaten des Landes sind, langfristig gesehen, besser, als es einige Indikatoren kurzfristig signalisieren. Die öffentlichen Finanzen sind – insbesondere im historischen Vergleich – in einem guten Zustand mit einem niedrigen Haushaltsdefizit und einer Staatsverschuldung unter 40% des BIP.
Die vollständige Länderstudie Türkei steht zum kostenlosen Download auf der Website www.ducroire-delcredere.de zur Verfügung.
Kontakt: c.witte[at]delcredere.eu