Die wirtschaftliche Entwicklung Vietnams hängt 2012 von dem Ausmaß der weltwirtschaftlichen Abschwächung, der Nachfrage der USA nach verarbeiteten Gütern aus Vietnam und den finanziellen Auswirkungen der Krise in der Euro-Zone ab. Die Risiken haben in den vergangenen Jahren zugenommen. Um eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung sicherzustellen, ist die Umsetzung struktureller Reformen wie der Restrukturierung der Staatsunternehmen und Banken notwendig.
Von Christoph Witte, Direktor Deutschland, Delcredere N.V.
Derzeit liegen die größten internen Risiken in der zunehmenden Unzufriedenheit der Arbeiterschaft. Wie im benachbarten China geht mit der ökonomischen Entwicklung des Landes und der zunehmenden Ungleichheit der Vermögensverteilung soziale Instabilität einher, obwohl bei der Armutsbekämpfung gute Erfolge erzielt werden. Illegale Streiks, deren Zahl sich im vergangenen Jahr verdoppelte, zielen normalerweise auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Lohnerhöhungen, da die Lebenshaltungskosten steigen.
Die Behörden versuchen, die soziale Unzufriedenheit, die hauptsächlich in Industrieparks und Fabriken ausländischer Investoren auftritt, durch Lohnerhöhungen statt mit repressiven Mitteln zu besänftigen. Solche sozialen Entwicklungen und Auseinandersetzungen sind ein Zeichen für die Notwendigkeit einer erfolgreichen Wirtschaftsentwicklung, wenn die KPV ihre Macht im bisherigen
Rahmen erhalten will. Am Ende könnte dies jedoch nicht ausreichen. Zunehmende
sozioökonomische Ungleichgewichte bedrohen die interne Stabilität, während die wachsende Mittelklasse in den Städten mit der Zeit mehr demokratische Rechte einfordern könnte.
Das wirtschaftliche Wachstum wird von den diversifizierten Exporten getragen. Sie bestehen vor allem aus Rohstoffen zu hohen Weltmarktpreisen sowie verarbeiteten Gütern wie Bekleidung und Schuhen, die von der Abwertung des Dong profitieren. Ein geringerer Wachstumsbeitrag kommt vom anhaltenden privaten Verbrauch. Obgleich mittel- und langfristig eine starke wirtschaftliche Entwicklung mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 7,5% erwartet wird, wird der Ausblick getrübt von der für 2012 erwarteten globalen Wirtschaftsabschwächung, vor allem in der EU, sowie der Unsicherheit bezgl. des Wirtschaftswachstums in den USA, die ein Fünftel der vietnamesischen Auslandsnachfrage stellen.
Sorgen bereitet auch die Gefahr einer Ansteckung durch die Finanzkrise in der Euro-Zone. Tatsächlich besteht für Vietnam das Risiko einer Schädigung durch den weiteren Kapitalabzug europäischer Banken und verminderte ausländische Direktinvestitionen, von denen ein Teil des Wirtschaftswachstums abhängt. Die Direktinvestitionen sanken bereits von 15,5 Mrd USD im Jahr 2010 auf rund 11 Mrd USD 2011. Da Vietnam durch seinen Aufstieg zu einem Land mittleren Einkommens schrittweise weniger Finanzmittel zu vergünstigten Konditionen von multilateralen
Institutionen erhält, können Zahlungsbilanzprobleme im derzeitigen Umfeld nicht ausgeschlossen werden. Doch das Risiko wird begrenzt durch die Fähigkeit Vietnams, bedeutende Zahlungen von hilfsbereiten ausländischen Gebern zu mobilisieren.
In einem eingetrübten Umfeld und angesichts massiver Preissteigerungen hat sich die Zentralbank zu einer prozyklischen Ausrichtung entschieden, die die Konjunktur weiter abkühlen soll. Dazu begrenzt sie weiterhin die Kreditvergabe der Banken, die nach einer Steigerung in den Jahren 2006 bis 2010 um jährlich 35% und damit weit über dem regionalen Durchschnitt inzwischen langsamer zunimmt. Die Zinssätze müssen sehr hoch (derzeit über 15% p.a.) gehalten werden, um die Inflation zu bekämpfen. Die Inflationsbekämpfung ist ein Hauptziel der Regierung, da die Preissteigerungsraten inzwischen zweistellig und damit seit 2010 die höchsten in Asien sind.
Über die umfangreiche Kreditvergabe der Banken hinaus haben einige andere Faktoren zur Inflation beigetragen, wie die höheren Nahrungsmittel- und Rohstoffpreise, Lohnanpassungen und die Anhebung der Strompreise. Ein weiteres Thema mit hoher Priorität ist für die Zentralbank die Wechselkurspolitik, da das hohe Defizit in der Leistungsbilanz seit Mitte 2008 einen ständigen Druck auf den Kurs der Landeswährung Dong ausübt. Sechs Abwertungen in weniger als drei Jahren haben den Wert des Dong gegenüber dem US-Dollar um fast 30% verringert. Der Dong ist praktisch an den US-Dollar gebunden und durch Stimmungsschwankungen der Investoren leicht angreifbar.
Außer gegen den Druck des Marktes anzugehen, beabsichtigt die Zentralbank mit diesen Maßnahmen, die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und das Handelsbilanzdefizit zu verringern. Diese Abwertungspolitik wird sie wahrscheinlich in Zukunft fortsetzen, da die Währungsreserven mit einem Zehnjahrestiefstand von 1,5 Monatsimporten für eine Aufhebung des Abwertungsdrucks nicht ausreichen. Die anhaltende externe Liquiditätsschwäche Vietnams ist zu erklären durch hohe Importe, die enttäuschenden Direktinvestitionen des vergangenen Jahres und mehrfache Interventionen der Vietnamesischen Staatsbank zur Verteidigung des angestrebten Wechselkurses zum US-Dollar. Die zukünftige Entwicklung hängt von der Wiederherstellung des Vertrauens in den Dong und der Verringerung des Leistungsbilanzdefizits ab. Das sind herausfordernde Ziele angesichts des ungünstigen Umfeldes.
Alles in allem sind die Behörden seit 2011 entschlossen, die angestauten makroökonomischen Ungleichgewichte zu beheben. Die Regierung hat den Schwerpunkt auf Stabilität und Inflationsbekämpfung gelegt, auch wenn dies in einem eingetrübten wirtschaftlichen Umfeld geschieht.
Die Regierung hat diese Ziele in dem Ende 2011 vorgelegten Maßnahmenpaket
„Resolution 11“ bestätigt und die makroökonomische Stabilität auch zu einem
mittelfristigen Ziel erklärt. Dieser bemerkens- und begrüßenswerte Politikwechsel
war angesichts des angeschlagenen Vertrauens in die Wirtschaftspolitik notwendig. Der Vertrauensverlust hatte sich in dem Abwertungsdruck auf den Dong sowie der inländischen Kapitalflucht in US-Dollar und Gold niedergeschlagen.
Darüber hinaus wurden die Verlässlichkeit der Regierung, die Kreditwürdigkeit der
Staatsunternehmen und das Vertrauen der Investoren durch den Verzicht auf
staatliche Kredithilfen und die Unsicherheit bezgl. der Restrukturierung der Verbindlichkeiten ernsthaft untergraben. Dies hat auch die implizite Haftung des Staates für die Verbindlichkeiten seiner Unternehmen in Frage gestellt. Nun hat der schwierige Prozess der Vertrauensbildung an den Finanzmärkten begonnen, um auch den zuletzt negativen Trend bei den ausländischen Direktinvestitionen im vergangenen Jahr wieder umzukehren.
Hanoi hat sich auch der Konsolidierung des Staatshaushalts verschrieben. Dieser Prozess ist erforderlich, da sich das Haushaltsdefizit im Zuge des umfangreichen Konjunkturprogramms auf 9% des BIP im Jahr 2009 rapide verschlechtert hat. Seither haben Sparmaßnahmen das Defizit auf rund 4% des BIP verringert. Trotzdem könnte sich die weitere Anpassung des Haushalts angesichts des wirtschaftlichen Abschwungs und der notwendigen hohen Ausgaben für öffentliche Investitionen als Herausforderung erweisen.
Nach jüngsten offiziellen Stellungnahmen nimmt die öffentliche Verschuldung durch eine höhere öffentliche Kreditaufnahme zu und dürfte 2012 bis auf 58% des BIP steigen. In diesem Zusammenhang sind die hohen drohenden Verbindlichkeiten der staatlichen Geschäftsbanken, der Sozialversicherung etc. eine zusätzliche Belastung für den Staat, die nicht unterschätzt werden darf. Auch wenn es keinen Grund für übertriebenen Pessimismus gibt, da die öffentlichen Zinszahlungen mit 5–6% der Staatseinnahmen relativ niedrig sind, muss die zukünftige Entwicklung der vietnamesischen Staatsfinanzen genau beobachtet werden.
Das wirtschaftliche Potential Vietnams ist groß, und seine Entwicklung dürfte kräftig bleiben, auch wenn der globale Abschwung sowie die finanzielle Ansteckungsgefahr durch die Euro-Krise die Konjunkturaussichten beeinträchtigt. Die Auslandsnachfrage hängt zudem von dem Wachstum in den USA ab.
Vietnam stehen Zeiten besonderer Herausforderungen bevor. Die Nachhaltigkeit der Wirtschaft, das Vertrauen der Investoren und die Entwicklung des Länderrisikos hängen vor allem von einer hochqualifizierten Wirtschaftspolitik, die die zahlreichen Ungleichgewichte in Außenwirtschaft und Staatshaushalt angeht, und von grundlegenden Strukturreformen insbesondere bei den Staatsunternehmen und im Bankensektor ab.
Kontakt: c.witte[at]delcredere.eu
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