In den ersten elf Monaten des Jahres 2010 haben sich mehr als 60% des deutschen Außenhandels mit anderen EU-Ländern vollzogen. Anstatt von Im- und Export wird dabei bekanntermaßen von innergemeinschaftlichen Lieferungen und Erwerben gesprochen. Die Teilnahme am innergemeinschaftlichen Warenhandel führt zu einer Vielzahl von umsatzsteuerlichen Obliegenheiten, wobei der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Verletzung umsatzsteuerlicher Pflichten nun mit dem Sanktionsgedanken ahndet.
Von Axel Scheller, Steuerberater und Partner, Schrömbges + Partner
Risiko Umsatzsteuer
Für die Abwicklung von Liefergeschäften mit Warenbewegung zwischen zwei EU-Ländern sind Umsatzsteuer-Identifikationsnummern zu verifizieren, die Liefersummen gesondert pro Abnehmeridentität zu melden und Meldungen zur Handelsstatistik (Intrastat) abzugeben. Durch die mit dem Wegfall der Zollkontrollen verbundene Schwierigkeit des Nachweises von innergemeinschaftlichen Warenbewegungen ist es aus umsatzsteuerlicher Sicht seitdem oft riskanter, eine Ware an ein Unternehmen im EU-Ausland zu verkaufen als dieselbe Ware über die EU-Grenzen hinaus zu exportieren. Das gilt insbesondere dann, wenn die Verantwortung für den Warentransport außerhalb der Sphäre des liefernden Unternehmens liegt.
Im Hinblick auf das oft strittige Thema der Nachweiserfordernisse war Ende 2007 zunächst etwas Ruhe eingekehrt, nachdem der EuGH in einer Reihe von Urteilen sehr ausführlich dargelegt hatte, dass das Gelangen des Liefergegenstands in das EU-Ausland und die umsatzsteuerliche Eigenschaft des Abnehmers zwar nachzuweisen sind, um in den Genuss der Steuerfreiheit einer innergemeinschaftlichen Lieferung zu kommen, dass die Mitgliedsstaaten bei der Ausübung ihrer nationalen Befugnisse aber maßvoll vorzugehen haben und die allgemeinen Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit beachten müssen.
Verweigerung der Steuerbefreiung
Im Dezember 2010 hat der EuGH in einer aufsehenerregenden Entscheidung (EuGH-Urteil „R.“) allerdings noch den Sanktionsgedanken in die Gewährung der Steuerbefreiung für eine innergemeinschaftliche Lieferung einfließen lassen. Demnach soll die Befreiung trotz Vorliegens der objektiven Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung versagt werden können, wenn sich der Lieferer vorsätzlich an der Hinterziehung von Erwerbsteuer im Bestimmungsland beteiligt hat. Der Verweigerung der Steuerbefreiung wird eine „abschreckende Wirkung“ (Rn. 50 des Urteils) beigemessen. In dem konkreten Fall war erwiesen, dass der Lieferer die Identität des wahren Abnehmers durch Scheinrechnungen und sonstige Manipulationen verschleiert und so zur Umsatzsteuerhinterziehung im Bestimmungsland beigetragen hatte. Der Vorlage war ein Strafverfahren vorausgegangen, in dem es um die Vollziehung einer mehrjährigen Freiheitsstrafe des Lieferers ging. Die Entstehung einer Steuerschuld im Abgangsland der Lieferung eröffnet nun die Möglichkeit, den Lieferer dort aufgrund einer von ihm begangenen Steuerhinterziehung zu verurteilen.
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Finanzverwaltung dieses Urteil zum Anlass nehmen wird, Nacherhebungen fortan vermehrt mit vermeintlich vorsätzlichem Handeln des Lieferers zu begründen.
Kontinuierliche Prüfung sinnvoll
Auch wenn es sich hier um eine Einzelfallentscheidung handelt, ist ein ins EU-Ausland lieferndes Unternehmen auf jeden Fall gut beraten, wenn es seine Abwicklungsprozesse kontinuierlich überprüft und ein internes Kontrollsystem aufbaut. Umsatzsteuerliche Nachforderungen können die Existenz kleinerer und mittlerer Unternehmen schnell vernichten. Das Risk-Management sollte auf jeden Fall vor einer Prüfung durch die Steuerbehörden ansetzen.
Sanktionsgedanke involviert
Der Sanktionsgedanke ist dem Wesen der Umsatzsteuer zwar fremd, in der Rechtsprechung des EuGH allerdings keineswegs neu. So hat der EuGH im April 2010 in einem das Spiegelbild der innergemeinschaftlichen Lieferung betreffenden Urteil entschieden, dass der Vorsteuerabzug in Bezug auf die Steuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb im Land der vom Erwerber verwendeten USt-IdNr. nicht möglich ist, wenn die Gegenstände niemals physisch in diesen Mitgliedsstaat gelangen (EuGH-Urteil „Facet“).
Der EuGH begründet auch dieses Ergebnis mit dem Sanktionsgedanken: Denn die Gewährung des Vorsteuerabzugs würde dazu führen, dass für den Erwerber „kein Anreiz mehr bestünde“, seiner Verpflichtung zur Deklaration im Bestimmungsmitgliedsstaat überhaupt nachzukommen (Rn. 44). Die praktische Bedeutung dieses Urteils dürfte sich erst dann erschließen, wenn man sich mit der Wechselwirkung zwischen innergemeinschaftlicher Lieferung und innergemeinschaftlichem Erwerb etwas näher auseinandergesetzt hat.
Voraussetzungen für Befreiung
Die Steuerfreiheit einer innergemeinschaftlichen Lieferung wird nur im Hinblick auf die abnehmerseitig erfolgende Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs gewährt. Dieser Erwerb gilt dort als bewirkt, wo sich der Liefergegenstand am Ende der Warenbewegung befindet. Das gilt selbst dann, wenn der Erwerber dort über keine Umsatzsteuer-Identität verfügt.
Verwendet der Erwerber gegenüber seinem Lieferanten die USt-IdNr. eines anderen EU-Landes als des Bestimmungslands, so wird ein zusätzlicher Erwerbstatbestand im USt-IdNr.-Verwendungsland begründet. Die Erwerbsteuer entsteht in einem solchen Fall doppelt, d.h. sowohl im Bestimmungsland als auch im Land der verwendeten USt-IdNr. Das gilt solange, bis der Erwerber die Durchführung der Erwerbsbesteuerung im Bestimmungsland nachweist.
Die Erwerbsbesteuerung im USt-IdNr.-Verwendungsland kann wieder rückgängig gemacht werden, wenn der Erwerber diesen Nachweis erst später erbringt. Die auf den innergemeinschaftlichen Erwerb geschuldete Umsatzsteuer ist unter den allgemeinen Voraussetzungen als Vorsteuer abzugsfähig. Da die Erwerbsteuer im Wege der Selbstdeklaration zu entrichten ist, erfolgt die „Bezahlung“ der Erwerbsteuer bei korrespondierendem Vorsteuerabzugsanspruch i.d.R. cashflow-neutral.
Mit Ausnahme des Sonderfalls eines innergemeinschaftlichen Dreiecksgeschäfts sind allerdings diejenigen Fälle kritisch, in denen der Erwerber unter der USt-IdNr. eines anderen EU-Landes als des Bestimmungslands auftritt. Von praktischer Relevanz sind solche Konstellationen nicht nur dann, wenn der Erwerber seinen Lieferanten kurzfristig anweist, die Gegenstände aufgrund von Engpässen an einen Unternehmensteil in einem anderen EU-Land als dem, dessen USt-IdNr. er bei der Bestellung angegeben hatte, auszuliefern. In der Praxis tritt diese Situation vor allem auch dann ein, wenn der Erwerber im Ankunftsland der Gegenstände gar nicht registriert ist und zur Vermeidung der Umsatzsteuer auf die an ihn ausgeführte Lieferung versucht ist, einfach unter seiner heimischen USt-IdNr. aufzutreten. Der Erwerber hat dann oft überhaupt nicht vor, den innergemeinschaftlichen Erwerb im Bestimmungsland später offenzulegen.
Anwendungsbeispiel
Das folgende Beispiel zeigt eine mögliche Erscheinungsform der nichtabzugsfähigen Erwerbsteuer durch Verwendung der USt-IdNr. eines an der Warenbewegung nicht beteiligten Landes:
Ein deutscher Werkunternehmer „DE“ installiert und montiert eine Produktionsanlage für einen Auftraggeber in Spanien („ES“). Dafür kauft er unter Verwendung seiner deutschen USt-IdNr. Bauteile hinzu, die direkt von Portugal („PT“) an die Baustelle in Spanien geliefert werden. Hinsichtlich der Werklieferung sollen die Voraussetzungen für den Übergang der Steuerschuld auf den spanischen Auftraggeber erfüllt sein. DE ist in Spanien nicht registriert und begründet dort auch keine Betriebsstätte.
Schematisch sieht der Geschäftsverlauf wie folgt aus (Graphik):
Anders als das Verbringen eigener Bauelemente, erfüllt der Zukauf von Bauteilen aus anderen EU-Ländern den Tatbestand des innergemeinschaftlichen Erwerbs. Da die Lieferung in Spanien endet, liegt der Erwerb dort. Nach innerspanischem Recht ist dieser Erwerb zwar steuerfrei; gleichwohl muss sich DE im Hinblick auf den Erwerbsvorgang in einem vereinfachten Verfahren in Spanien registrieren lassen. Das gilt unabhängig davon, dass die Steuerschuld in Bezug auf die in Spanien erfolgende Werklieferung auf ES übergeht.
Darüber hinaus wird aufgrund der Verwendung der deutschen USt-IdNr. ein innergemeinschaftlicher Erwerb in Deutschland unterstellt, bis DE nachweist, dass der Erwerb in Spanien deklariert wurde. Die deutsche Erwerbsteuer berechtigt DE nicht zum Vorsteuerabzug. Um der Registrierungspflicht in Spanien zu entkommen und den Vorsteuerabzug im Hinblick auf die Erwerbsteuer nicht zu gefährden, müsste DE PT anweisen, die Bauteile stattdessen nach Deutschland zu versenden, und die Teile sodann selbst auf die Baustelle in Spanien verbringen.
Wer zur Vermeidung der Umsatzsteuer-belastung durch seinen Lieferanten unter der USt-IdNr. eines anderen Mitgliedstaates als des Bestimmungslandes auftritt, kann die Erwerbsteuer im USt-IdNr.-Verwendungsland nicht zum Vorsteuerabzug geltend machen. Die Verpflichtung zur Deklaration des innergemeinschaftlichen Erwerbs im Bestimmungsland bleibt davon unberührt.
Kontakt: axel.scheller[at]schroembges.net
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