Ruben Nizard, Volkswirt für Nordamerika beim Kreditversicherer Coface, spricht im Exklusiv-Interview mit dem „ExportManager“ über den nahenden US-Wahlkampf, den Schuldenschlamassel und die wirtschaftlichen Aussichten für das kommende Jahr in der größten Volkswirtschaft der Welt.
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Herr Nizard, was werden Ihrer Meinung nach die Schwerpunkte im kommenden US-Wahlkampf sein?
Ruben Nizard: Ich denke, dass sich der US-Wahlkampf auf einige Schlüsselthemen konzentrieren wird, etwa die wirtschaftliche Situation. Während die Regierung Biden weiterhin auf die positive Verfassung der Wirtschaft wie z.B. die ungewöhnlich niedrige Arbeitslosenquote hinweist, bereitet vielen Amerikanern die Inflation nach wie vor Sorgen, obwohl sie sich in letzter Zeit etwas abgeschwächt hat. Das Abtreibungsrecht hat bei den Zwischenwahlen im vergangenen Jahr eine wichtige Rolle gespielt und noch einmal an Bedeutung gewonnen nach der Wiedereinführung des Verbots eines Schwangerschaftsabbruchs. Viele Wähler, die eher den Republikanern zugewandt sind, werden wahrscheinlich die Einwanderung als entscheidendes Kriterium heranziehen. Auch Gewaltverbrechen, das Gesundheitswesen und die Opioidkrise dürften für die Wähler eine hohe Priorität haben. Obwohl die Außenpolitik meist einen geringeren Einfluss auf den Wahlausgang hat, könnte sie dennoch ein heißes Eisen werden – allein schon wegen des anhaltenden Ukrainekriegs, der immer wieder aufflammenden Spannungen mit China und der Lage im Nahen Osten.
Wer wird nach Ihrer Prognose ins Weiße Haus einziehen?
Die US-Wahl 2024 könnte eine Art Echo der harten Auseinandersetzung zwischen Joe Biden und Donald Trump aus dem Jahr 2020 werden. Trump hat unter den republikanischen Kandidaten einen großen Vorsprung und wird wahrscheinlich erneut von der Partei nominiert werden. Sollte er dann wieder gegen Biden antreten, glaube ich, dass die Chancen für Biden als Amtsinhaber etwas besser stehen – trotz der Bedenken wegen seines Alters. Darüber hinaus könnten Trumps Gerichtsverfahren, insbesondere im Zusammenhang mit dem Sturm aufs Kapitol, unentschlossene Wähler abschrecken. Ein Sieg Trumps ist aus meiner Sicht nicht unmöglich, wäre aber doch etwas überraschend. Unabhängig davon, wer die Präsidentschaftswahlen gewinnt, dürfte ein geteilter Kongress ein wahrscheinliches Ergebnis sein. In jedem Fall versprechen die Wahlen im kommenden Jahr ein weiterer entscheidender Moment in der US-Politik zu werden.
Apropos: Wie beurteilen Sie das jüngste Chaos im US-Repräsentantenhaus?
Meiner Meinung nach verdeutlicht dieses Chaos die starke Polarisierung in der politischen Landschaft. Abgesehen von der wachsenden Kluft zwischen Republikanern und Demokraten haben diese Ereignisse auch die Gräben innerhalb der Republikanischen Partei offengelegt. Das Gezerre um die Schuldenobergrenze und die Gefahr eines Regierungsstillstands werden mehr und mehr zu einem festen Bestandteil der politischen Auseinandersetzung und führen zu einer erhöhten wirtschaftlichen Unsicherheit.
In den USA sind in den vergangenen Jahren viele Selbstverständlichkeiten infrage gestellt worden. In welche Richtung entwickelt sich die größte Volkswirtschaft der Welt?
Trotz hoher Inflation und einer beispiellosen Straffung der Geldpolitik hat die US-Wirtschaft in diesem Jahr eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit gezeigt. Wir rechnen für 2023 mit einer starken Wachstumsrate von etwa 2,0%, nach 2,1% im vergangenen Jahr. Ein robuster Arbeitsmarkt und der langsame Abbau der Ersparnisse haben die Konsumausgaben gestützt, während die US-Regierung trotz steigender Kapitalkosten weiter investiert hat. Da der Kampf gegen die Preissteigerungen jedoch weitergeht, dürften die finanziellen Rahmenbedingungen in den kommenden Monaten angespannt bleiben. Dies wird die Widerstandsfähigkeit der Finanzen von Verbrauchern und Unternehmen erneut auf die Probe stellen. Coface prognostiziert daher eine deutliche Abschwächung der Dynamik in der US-Wirtschaft auf 0,9% im kommenden Jahr.
Wie schlimm ist der Schuldenschlamassel wirklich?
Der Status des US-Dollar als globale Reservewährung ist unbestritten und verleiht der US-amerikanischen Regierung eine beispiellose Finanzierungsflexibilität. Im Grunde bedeutet dies, dass in der Theorie das Risiko eines Schuldenausfalls gegen Null geht. Selbst wenn die Regierung einfach US-Dollar drucken würde, bliebe das Vertrauen in die Währung erhalten. Dennoch gibt es zweifellos auch für die USA fiskalische Herausforderungen, allen voran in einem Umfeld höherer Zinsen. Das Hauptrisiko für die Tragfähigkeit der US-Schulden ist jedoch politischer Natur: Die zunehmende Spaltung der politischen Landschaft hat zu anhaltenden Streitereien geführt. Diese gewinnen immer mehr an Dimension, sodass sogar ein möglicher Zahlungsausfall als Kollateralschaden denkbar ist. Dies wurde bei der Auseinandersetzung um die Schuldenobergrenze im Frühjahr sehr deutlich.
Was würde passieren, wenn die USA zahlungsunfähig wären?
Eine solche, jedoch sehr unwahrscheinliche Zahlungsunfähigkeit hätte sicherlich weitreichende negative Effekte auf die Finanzmärkte und die Wirtschaft. Ein Zahlungsausfall würde der US-Wirtschaft direkt schaden, da alle Ausgaben, die derzeit über Kredite finanziert werden, gekürzt werden müssten, wenn keine Einigung erzielt wird. Darüber hinaus wären die USA wahrscheinlich mit Turbulenzen auf den Finanzmärkten konfrontiert, der US-Dollar würde erheblich abwerten und natürlich würden die Renditen von US-Staatsanleihen stark ansteigen. Da die Renditen der US-Treasuries als Maßstab für andere Wertpapiere dienen, würde das Zinsniveau der gesamten Wirtschaft steigen und die Aktienkurse nach unten drücken. In diesem Szenario wäre eine Herabstufung der Kreditwürdigkeit der USA unvermeidlich und würde eine Kaskade von Herabstufungen der Kreditwürdigkeit aller US-Schuldner, einschließlich Finanzinstituten, Unternehmen und Kommunen auslösen. Eine Zahlungsunfähigkeit der USA würde wahrscheinlich auch auf die internationalen Märkte ausstrahlen und sich auf US-Dollar lautende Vermögenswerte auswirken.
Im Herbst waren Außenministerin Annalena Baerbock und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf USA-Reise. Welche Wirkungen haben solch prominente Besuche?
Die Besuche von Außenministerin Annalena Baerbock und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier waren eine gute Gelegenheit, das transatlantische Bündnis zu unterstreichen, insb. im aktuellen geopolitischen Kontext. Europa und die USA haben zuletzt ein hohes Maß an Zusammenarbeit in internationalen Angelegenheiten an den Tag gelegt, angefangen mit dem gemeinsamen Bekenntnis zur Unterstützung der Ukraine. Diese Einigkeit wurde erzielt, obwohl angesichts der aktuellen Krise im US-Repräsentantenhaus Bedenken hinsichtlich der Unterstützung der Ukraine bestehen.
Wie bewerten Sie die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland bzw. der EU derzeit, z.B. in Bezug auf die Handelspolitik?
Die Handelsbeziehungen zwischen den USA und ihren Partnern, einschließlich der EU und Deutschland, sind seit dem Amtsantritt der Regierung Biden wieder berechenbarer geworden. Die US-Regierung hat sich verpflichtet, die Partnerschaft zwischen den USA und der EU „wiederherzustellen und neu zu beleben“. Dazu gehört eine Entspannung an der Handelsfront, insbesondere die Einführung eines Zollkontingents für Aluminium und Stahl im Oktober 2021, wodurch die Zölle auf diese Produkte gelockert werden, die unter der Trump-Regierung im Jahr 2018 eingeführt wurden. Die Verhandlungen zum Abbau sämtlicher Zölle aus der Trump-Ära und zur Abmilderung der Auswirkungen der amerikanischen Klimaschutzsubventionen sind jedoch in den vergangenen Wochen ins Stocken geraten und wurden auf dem Europa-USA-Gipfel in Washington im Oktober eher vertagt als gelöst. Deutlich mehr Einigkeit gab es im Bereich der gemeinsamen Bekämpfung von Lieferkettenproblemen und das Thema Technologie-sicherheit wurde hervorgehoben.
Welche Branchen leiden derzeit besonders unter Zollrestriktionen?
Im Mittelpunkt etwaiger Reibungen stehen die Metall-, die Automobil- und die Technologiebranche. Die Zölle zwischen den USA und der EU sind aber alles in allem noch immer relativ niedrig und der Handel zwischen beiden Seiten bleibt dynamisch.
Die US-Inflation ist binnen Jahresfrist durch etliche Zinssteigerungen deutlich zurückgegangen, hat im Spätsommer aber wieder etwas angezogen. In welche Richtung werden sich Ihrer Meinung nach Teuerungsrate und Zinsen in den nächsten Jahren entwickeln?
Obwohl die Gesamtinflationsrate von 3,0% im Juni dieses Jahres auf 3,7% im September angestiegen ist, sind dennoch deutliche Fortschritte beim Thema Preisanstiege zu verzeichnen. Die zugrundeliegenden Inflationsindikatoren, einschließlich der Kerninflation, welche die volatilen Lebensmittel- und Energiepreise ausschließt, befinden sich nach wie vor auf einem langsamen Abwärtstrend. Ich gehe davon aus, dass sich die Gesamtinflation in den kommenden Monaten weiter abschwächen wird, es aber schwierig bleiben dürfte, die jährliche Inflationsrate schon bis 2024 wieder auf 2,0% zu senken. Die abnehmende Inflationsrate und die schwächere Wirtschaftstätigkeit dürften die Federal Reserve dazu veranlassen, bei den Zinsentscheidungen im kommenden Jahr bezüglich weiterer Zinsschritte zu pausieren und später im Jahr sogar mit Zinssenkungen zu beginnen.
Die USA werden in diesem Jahr wohl um eine Rezession herumkommen. Dennoch bleibt die Unsicherheit bzgl. der kurzfristigen Konjunkturentwicklung erheblich. Wohin geht die Reise?
Wie bereits erwähnt, hat die US-Wirtschaft in diesem Jahr eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit bewiesen und ich gehe davon aus, dass diese in den kommenden Monaten weiter auf die Probe gestellt werden wird. Während die Auswirkungen der höheren Zinsen die Verbraucher- und Unternehmensausgaben beeinträchtigen dürften, könnten mehrere kurzfristige Faktoren die Probleme im vierten Quartal noch verstärken. Ein möglicher Government Shutdown, also ein Regierungsstillstand, und der Streik der Gewerkschaften in der Automobilindustrie sind einige kleinere Schocks, die die Wirtschaftstätigkeit beeinträchtigen würden. Darüber hinaus dürfte die Wiederaufnahme der Rückzahlungen von Studentendarlehen seit dem 1. Oktober das verfügbare Einkommen vieler Haushalte und damit auch die Verbraucherausgaben beeinträchtigen. Die Rückzahlung von Studienkrediten war im März 2020 als Reaktion auf die Corona-Pandemie ausgesetzt worden.
Was erwarten Sie für das kommende Jahr?
Für 2024 rechne ich mit einer Abschwächung der Wirtschaftstätigkeit, da sowohl die Verbraucher als auch die Unternehmensbilanzen durch die anhaltend hohen Zinsen belastet werden. Auch wenn unser Basisszenario für das kommende Jahr keine Rezession vorsieht, bleiben die Risiken erheblich. In der Zwischenzeit dürfte sich die Kerninflation weiter abschwächen, aber der Weg zurück zum 2%-Ziel der Fed wird wohl weiterhin holprig sein.
Wie ist die aktuelle Lage auf dem US-Immobilienmarkt?
Der US-Immobilienmarkt hat sich seit Anfang 2022 merklich abgekühlt. Die aggressive Straffung der Geldpolitik führte dazu, dass die Hypothekenzinsen auf den höchsten Stand in zwei Jahrzehnten gestiegen sind, was sich auf die Käufer auswirkt, insb. nach den Preissteigerungen, die auf die Covid-19-Pandemie folgten. Dennoch gab es in den letzten sechs Monaten einige Anzeichen für eine Stabilisierung verschiedener Wohnungsmarktindikatoren. Angesichts der zu erwartenden Fortsetzung der restriktiven Geldpolitik und der hohen Hypothekenzinsen ist es jedoch noch zu früh, um von einer möglichen Erholung des Wohnungsmarktes zu sprechen.
In welchen Branchen läuft es derzeit in den USA noch rund?
Auch wenn es nicht mehr ganz so rund läuft wie im vergangenen Jahr, so bleibt doch der Dienstleistungssektor aufgrund der robusten Verbraucherausgaben weiterhin die treibende Kraft der US-Wirtschaft. Dank der Subventionen im Rahmen des U.S. Chips Act und des Inflation Reduction Act (IRA), die beide im vergangenen Jahr in Kraft getreten sind, erleben die USA auch einen Anstieg der Investitionen in Produktionsstätten, vor allem für die Halbleiter- und E-Auto-Batterieproduktion. Darüber hinaus könnten Infrastrukturausgaben, wie sie im überparteilichen Infrastructure Investment and Jobs Act (IIJA) von 2021 skizziert sind, bestimmte Segmente des Bausektors fördern – trotz der anhaltenden Herausforderungen auf dem Wohn- und Gewerbeimmobilienmarkt.
Was ist der aktuelle Stand der Dinge bei den großen US-Investitionspaketen?
Die bedeutenden Investitionspakete, die in den ersten beiden Jahren der Regierung Biden verabschiedet wurden, also IRA, Chips Act und IIJA, befinden sich derzeit in der Umsetzungsphase. Die verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass sie zu einem Anstieg der öffentlichen und privaten Investitionen im Industriesektor beigetragen haben. Der langfristige Erfolg dieser Maßnahmen, die vor allem auf die Reindustrialisierung und das Ausstechen Chinas abzielen, bleibt jedoch ungewiss.
Die Fragen stellte Jörg Rieger.